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 “Man zeichnet was man weiß” – Gespräch mit Theo de Feyter

Gespräch über Archäologie und Zeichnung im MePri,
Düsseldorf am 16.12.2006

Alexander Roob: Du hast neben deiner künstlerischen Ausbildung auch ein Archäologiestudium absolviert und das dann auch professionell betrieben. Vielleicht kannst du zu Anfang ein paar biografische Informationen voranstellen.

Theo de Feyter: Also, zuerst habe ich Kunst studiert an der Rijksakademie in Amsterdam, womit ich aber unzufrieden war. Die Bilder, die ich wirklich malen wollte, konnte ich damals nicht realisieren und ich bekam auch keine Anleitung dazu. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass mir das, was ich an Können und an Vision bereits mitgebracht hatte, während des Studiums abhanden kam. Ich hatte schon immer den Plan gehabt Archäologie zu studieren. Als ich 32 war und schon einige Zeit als selbstständiger Künstler gearbeitet hatte, habe ich dieses Vorhaben dann auch realisiert. Ich hatte den Studiengang „Sprachen und Kulturen von Westasien“ belegt und entsprechend war ich als Student dann auch bei Ausgrabungen in Syrien und der Türkei dabei.
Als ich mich dann am Ende des Studiums entscheiden musste ob ich promoviere oder nicht hatte ich schon wieder Zweifel bekommen. Ich hatte zu der Zeit nämlich schon wieder mit Malen begonnen und das ging plötzlich erstaunlicherweise ganz gut. Wahrscheinlich war das auch der konsequenten schöpferischen Pause zu verdanken, die ich eingelegt hatte.

Roob:In den Zeiten der Ausgrabungen hattest du allerdings auch mit künstlerischer Tätigkeit zu tun, genauer mit Zeichnung. Wie kann man sich solche universitären Ausgrabungen vom Organisatorischen her vorstellen. Ist das eine Teamarbeit, in der jeder einmal alles macht, oder sind das ganz spezialisierte Aufgabenbereiche?

De Feyter: Das ist hierarchisch aufgeteilt. An oberer Stelle steht der Ausgrabungsleiter, meist der Professor der Universität oder ein Museumsleiter, der die Lizenz für die Ausgrabung besitzt. Dann gibt es den so genannten Field – Director, der Hauptdozent, der praktisch der Grabungsleiter ist. Und dann die so genannten Site – Supervisors. Das sind Studenten, die die Aufsicht über die jeweiligen Grabungsflächen haben, die ganz unterschiedlich groß sein können. Die beaufsichtigen auch die lokalen Arbeiter, die dort am Werk sind. Die Arbeit fängt dann an, indem ein planquadratisches Raster über das ganze Grabungsgebiet gezogen wird.

Roob: Die Zeichnung spielt also von Anfang an eine Rolle.

De Feyter: Ja, und zwar vom Beginn der Grabungsarbeiten an in zweierlei Richtung, in der Horizontalen und in der Vertikalen. Man fängt an der Oberfläche an. Die Objekte, die man dort findet, so genannte Streufunde, sind jedoch kaum von Bedeutung, weil sie über den Kontext nichts aussagen. Als Archäologe ist man ständig auf der Suche nach Kontext, nicht nach Zufallsfunden, von denen man, egal wie schön sie sein mögen, nicht weiß woher sie kommen, von wem und wie sie benutzt wurden und wie sie somit einzuordnen sind. Der Antiquitätenmarkt ist an schönen Fundstücken interessiert, nicht unbedingt der Archäologe.

Roob: Noch mal zum Verständnis. Es gibt im Grabungsteam nur einen, der sich zeichnerisch betätigt, den Site-Supervisor?

De Feyter: Nein, es gibt zwei, eigentlich sogar drei verschiedene Zeichner mit unterschiedlichen Aufgabengebieten. Zum einen eben den Site – Supervisor, der jeden Tag eine Horizontalzeichnung 1 zu 50 anfertigt. Bei der Bodenabtragung bleibt allerdings immer ein Teil der Umrandung jedes Planquadrats stehen. Daran lassen sich dann die Tiefenschichtungen ablesen. Die Zeichnung der zweiten Art, die der Supervisor von Zeit zu Zeit anfertigt, bildet also die Vertikale ab. Diese Vertikalwand ist äußerst wichtig, weil sich daran auch subtilste Veränderungen ablesen lassen, die man bei den Grabungen leicht verpasst, wie zum Beispiel dünne Schichten, die über die Erneuerungen eines Lehmfußbodens Aufschluß geben können.
Neben dem Site – Supervisor gibt es auch noch einen Architekten vor Ort. Der fängt an zu zeichnen, wenn sich größere architektonische Einheiten abzubilden beginnen. Wobei in dieser Architekturzeichnung dann auch die einzelnen Tageszeichnungen der Site – Supervisors Eingang finden.

Abb oben: T. de Feyter – Houses J and G (Floor plan) Area Munbaqa, Assad-dam, Syria in: MDOG  (Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft zu Berlin) 119 (1987):93

Abb rechts: T.de Feyter – House G, Tall Munbaqa, 1985, Syria. (1:50)

Roob: Entstehen diese Zeichnungen immer in strenger zeitlicher Regelmäßigkeit ?

De Feyter: Die Oberflächenzeichnung entsteht tatsächlich jeden Tag. Wobei die Abtragungstiefe natürlich differieren kann von 50 cm bis zu 10 cm Tiefe am Tag. Und wenn es Detailfunde gibt dann wird es noch langsamer. Wenn Mauernreste auftauchen und sich Räume herauszubilden beginnen, wenn es also richtig spannend wird, teilt man auch die Grabungsfläche in verschiedenen Subflächen auf, in denen es dann mit unterschiedlichen Grabungstempi weitergeht. Es geht dann oft um detaillierte Zusammenhänge zwischen den einzelnen Grabungseinheiten. Wie verhält sich z.b. eine Bodenfläche hier zu einer Mauer dort? Gibt es Verbindungen, Kontext?

Roob: Wie löst man so was zeichnerisch? Hat dir deine künstlerische Ausbildung in dieser Beziehung was geholfen?

De Feyter: Nein, ganz im Gegenteil. Im Gegensatz zu den Kollegen ohne künstlerische Vorbildung hatte ich regelrechte Schwierigkeiten mich auf die kühle, sachliche Anschauung der archäologischen Zeichnung einzulassen. Da gab es zum Beispiel die wellenförmige Struktur einer zerstörten Lehmziegelmauer, die sich schön an den Vertikalwänden im Profil abgebildet hat. Die habe ich sehr romantisch und expressiv in der Art einer Woge im Sturm aufgefasst. Das war natürlich ganz verkehrt. Zum einen hatte ich in meinem schöpferischen Eifer die genauen Vermessungen vernachlässigt und dann war da noch das Problem mit der Standardisierung. Es geht dabei um eine Art Gleichbehandlung aller wiederkehrenden Elemente in der Art einer verlässlichen Sprache, die der Betrachter lesen kann.

Roob: Eine ähnliche Standardisierung, wie sie bei technischen Zeichnungen eine Hauptrolle spielt ?

De Feyter: Genau. Wobei es in der archäologische Zeichnungen keine festgeschriebenen zeichnerischen Formeln für bestimmte Elemente gibt. Das ist jedem Zeichner selbst überlassen. Als dritten Zeichner neben dem Supervisor mit seinen Tageszeichnungen und dem Architekturzeichner gibt es bei den Ausgrabungen dann noch einen Spezialisten, der nur für die Darstellung von Objekten zuständig ist. Das sind manchmal Kunststudenten oder Grafiker, Illustratoren, die sich auf so etwas spezialisiert haben.

Roob: Warum werden diese Objekte nicht einfach fotografiert ?

De Feyter: Ein Fotograf ist natürlich auch immer anwesend, der die Objekte parallel auch ablichtet. Meistens handelt es sich dabei um irgendwelche Fragmente, die schwer zu erfassen sind. Und auf dem Foto weiß man oft kaum, was man sieht. Man zeichnet allerdings was man weiß.

Roob: Es ist also die interpretatorische Fähigkeit der Zeichnung, die sie gegenüber der Fotografie hier nützlich macht.

De Feyter: Genau. Ein Foto ist oft zu undeutlich. Feine Unterschiede etwa zwischen einer reinen Oberflächenbemalung und einer leichten Reliefbildung, die sind auf einem Foto meist nicht auszumachen. In der Zeichnung lassen sie sich aber hervorheben. Der Objektzeichner nimmt den Gegenstand, den er zeichnen soll in die Hand und erfühlt ihn, tastet ihn ab. Der informiert sich auch über das Objekt und befragt es und erst auf Grundlage dieses gewonnenen Erkenntnisstands zeichnet er dann. Und mehr noch: Der Zeichner vervollständigt auch mitunter Bruchstücke zu ganzen Objekten. Im archäologischen Sinne sind das dann vollständige Objekte, obgleich sie in dieser Vollständigkeit nur in der Zeichnung existieren.

Roob: Es handelt sich also um Rekonstruktionszeichnungen?

De Feyter: Nein, das sind keine Rekonstruktionen im Sinne von Mutmaßungen, wie etwas ausgesehen haben könnte, sondern man vervollständigt nur in solchen Fällen, wo man sich sicher sein kann. Dies ist zum Beipsiel der Fall wenn sich anhand der Bruchstücke eines symmetrischen Keramikgefässes die Übergänge vom Boden zum Rand nachvollziehen lassen. Solche vervollständigende Zeichnungen werden auch von den Site – Supervisors gemacht, natürlich auch auf eine sehr sachliche Art.

Roob: Wenn schon deine künstlerische Ausbildung dem archäologischen Zeichnen eher abträglich war, könnte man nicht auf der anderen Seite sagen, dass das archäologische Zeichnen deiner künstlerischen Arbeit zuträglich war ?

De Feyter: Wichtig war, dass ich dadurch gezwungen war mich von meinen romantischen Auffassungen zu trennen und lernen musste sehr zurückgenommen, sehr kühl und beschreibend zu zeichnen.
Darüber hinaus habe ich im Gegensatz zu einigen Freunden, die mich auf Parallelitäten hingewiesen habe, selbst nie eine Beziehung zwischen meiner künstlerischen und meiner wissenschaftlichen Arbeit feststellen können. Das waren für mich immer zwei wesentlich getrennte Bereiche, bis mir vor kurzem allerdings ein Licht aufgegangen ist über eine wichtige Korrespondenz. Ich hatte mich dabei an ein Ausgrabungserlebnis erinnert. Ich bin damals bei Grabungsarbeiten in Nordsyrien, das war 1986, auf eine ziemlich große Fläche gestoßen, die sich als das Innere eines Zimmers herausgestellt hat. Der Boden, auf den ich allmählich vorgestoßen bin, war noch sehr gut erhalten. Er bestand aus einer dicken Putzschicht aus Kalk und darauf lagen eine ganze Menge von Keramiken herum, die meisten davon zerbrochen. Die hatte ich in mühsamer Arbeit alle sorgsam freigelegt und auspräpariert. Denn es war klar, dass alles was sich dicht über oder direkt auf diesem Boden befand einen sicheren Kontext bildete, der über eine Bewohnungsphase dieses Hauses Aufschluss geben konnte.
Einmal stand ich in der Türöffnung dieses Hauses aus der späten Bronzezeit und blickte auf den Fußboden mit samt den vielen mühsam auspräparierten Keramikteilen darauf und mit einem Mal wurde mir klar, dass diese große Menge von Scherben eine Art dynamische Bewegungsspur bildete, die bis zur Türschwelle ging. Ansonsten war das Haus komplett leer. Mir ist da plötzlich klar geworden, dass dies die Spuren einer Bedrohung gewesen sein mussten, einer Flucht vor einer sich plötzlich ankündigenden Gefahr. Die Eile, die Hast, mit der das Haus anscheinend verlassen worden war, die war noch richtig spürbar anhand der Relikte.
Dieser kurze Moment in der Zeit, der lag da nun vor mir wie eingefroren. Und diese starke Anmutung von einer Fixierung des Momentanen, die mich da überkommen hat, die war natürlich auch der Langwierigkeit und der Sorgfalt der vorangegangenen Freilegung geschuldet. Dadurch dehnt sich dieser ganz kurze Moment in der Zeit in einen ganzen Zeitraum, den man penibel vermisst und mit allen den Zufälligkeiten, mit denen er behaftet ist, detailliert zeichnet.
Und genau darin sehe ich auch die Korrespondenz zu meinen jetzigen künstlerischen Projekten: Die Motive werden da ebenfalls nicht von mir selbst bestimmt, sondern ergeben sich durch Zeitschnitte. Das was ich in dem Düsseldorfer Luftlinienprojekt in der Horizontalen gemacht habe, nämlich mich von jüngeren Schichten der Bebauung in den Gewerbegebieten bis zur historischen Altstadt vorzuarbeiten, das passiert in der Archäologie in der Vertikalen.

Roob: In diesem Verhältnis zur Zeitlichkeit scheint mir auch ein wesentlicher Unterschied von Archäologiezeichnung und Architekturzeichnung zu liegen.

De Feyter:Dabei scheinen beide vom Gesichtspunkt der technischen Herangehensweise fast identisch zu sein. Der Unterschied ist trotzdem fundamental: In der Archäologie geht es im Grunde um eine Vermessung von Zeit. In der Architekturzeichnung dreht sich dagegen alles um die Vermessung von Raum.

Roob: Der Unterschied scheint sich schon alleine durch das Verhältnis beider Genres zueinander anzudeuten, von dem du vorhin sprachst. Die Zeichnung des Architekten bei der Grabung, sagtest du, wird als eine Art Kompilation aus den vielen Tageszeichnungen der Archäologen entwickelt. Das heißt, bei den archäologischen Grabungszeichnungen ist deren Serialität und Sukzessivität ein ganz wesentliches Element. Für mich stellt sich hier die Frage, ob eine einzelne archäologische Tageszeichnung, alleine was ihre wissenschaftlichen Verwertbarkeit und Aussagekraft betrifft, überhaupt Bestand haben kann oder ob sie nicht vielmehr erst innerhalb eines zeitrafferartigen sequentiellen Zusammenhangs wirklich Sinn macht? Vergleichbar vielleicht mit einer einzelnen Phasenzeichnung aus einem Trickfilm.

De Feyter: Das ist durchaus richtig. Bei einer Oberflächengrabung erscheinen die Objekte, Mauern und andere Architekturelemente nur ganz langsam und verzögert wie in einem extremen Zeitlupentempo. Besonders bei einer Grabung im Nahen Osten, wo man es mit leicht erodierbarer Lehmziegelarchitekur zu tun hat ist dies der Fall. Wenn man nun die Tageszeichnungen von der Grabungsfläche hintereinander anschaut, dann sieht man, wie die Mauernreste langsam auftauchen wie ein Stück Land bei sinkendem Meeresspiegel. Das ist tatsächlich wie in einem Trickfilm. Von den Archäologen werden die Zeichnungen während der Grabung auch in der Abfolge betrachtet um dadurch eine Prognose erstellen zu können, was weiter zu erwarten ist; eine Art Vorschau in die Vergangenheit, wenn man so will. Leider werden diese Tageszeichnungen nie in der Abfolge publiziert. Ab und zu tauchen allerdings einzelne Zeichnungen in Publikationen auf und zwar wenn sich neue Fragen stellen bezüglich des Materials von früheren Grabungen.
‘Ausgraben heißt vernichten’ lautet ein bekannter Spruch. Durch die Grabung löst sich die ausgegrabene Stadt meist in Luft auf. Das einzige, worauf man in solchen Fällen, wo neue Fragen auftauchen, wirklich zurückgreifen kann, das sind die Tageszeichnungen der Site – Supervisors, nicht die finale, zusammenfassende Architekturzeichnung.

Roob: Welche Entwicklung hat die archäologische Zeichnung genommen ?

De Feyter: Die hat zu Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. Aus den Zeichnungen, die der Engländer Layard bei den äußerst wichtigen Grabungen in Niniveh gemacht hat lässt sich zum Beispiel in wissenschaftlicher Hinsicht überhaupt nichts Verwertbares ablesen. Da wurden überhaupt keine Maße genommen sondern einfach nur drauf los gezeichnet, in der Auffassung ungefähr so wie Goethe eine Landschaft behandelt hat.
Die Grabungen von Layard waren insofern von enormer Tragweite als er auch den Teil des Königspalastes ausgehoben hat, in dem sich das Keilschriftenarchiv befunden hat. Die unzähligen Keilschrifttafeln aus Ton, die ihm auch nicht besonders bedeutsam erschienen, weil er sie nicht lesen konnte, hat er einfach mit samt dem Schutt in Kisten schaufeln lassen und ins British Museum in London verfrachtet. Und dort haben dann in den Kellern des Museums zu Ende des 19. bis weit ins 20te Jahrhundert neue Ausgrabungen stattfinden müssen, um herauskriegen in welcher Kiste was ist und wo das Zeug darin herkam, denn er hatte die Kisten überhaupt nicht beschriften lassen. Layard ist bei seinen Grabungen auch nicht systematisch von oben nach unten vorgegangen, was das A und O der Archäologie ist, sondern hat einfach wild in alle Richtungen getunnelt.

Roob: Maulwurfsarbeit ohne Kontext

De Feyter: Ja, völlig ohne Kontext.

Sir Austen Henry Layard, Underground Excavations,
in: Nineveh and Babylon, London 1897

 

 

 

 

 

 

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