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Die Flucht nach Ägypten. Vater und Sohn Tiepolo variieren ein Thema.

Die Staatsgalerie Stuttgart besitzt ein relativ kleines Bild von Giambattista Tiepolo: „Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“. Für einen ausgezeichneten Hof- und Freskomaler ist die Größe von nur 55,5 x 41,5 cm tatsächlich ungewöhnlich, zumal es sich hier nicht um einen Bozzetto, einen Fresko-Entwurf handelt, sondern um eins von vier überlieferten Gemälden zum gleichen Thema, die der venezianische Maler ein Jahr vor seinem Tod im freiwilligen spanischen Exil auf Leinwand fertigte.[1] Die anderen im ähnlichen Format hängen in Lissabon, New York und Bellagio. Keines also in Madrid, wo Battista seit 1762 lebte und wie gewohnt mit seinen Söhnen Giandomenico und Lorenzo hell strahlende, behimmelte Monumentalfresken realisierte, jetzt im Thronsaal des Palacio Real.

1) Giambattista Tiepolo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, ca. 1767-70, Öl auf Leinwand, 55,5 x 41,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart

Natürlich ging es in diesen Auftragswerken um die Verherrlichung Spaniens, um Allegorien der Macht, des Kolonialismus, triumphierend endend in der Apotheose der spanischen Monarchie. Soweit, so gut. Statt aber mit der Fertigstellung nach Venedig zurückzukehren, blieb Tiepolo weiter in Madrid und bewarb sich bei Hofe um Aufträge. Zwei Jahre arbeitete er an Heiligenporträts. Intime Darstellungen von Ekstase, Meditation waren ungewohnt für den großen Breitleinwanderzähler, aber auch der neue Geschmack des Klassizismus, verkörpert durch Anton Raphael Mengs – einer der größten Langweiler der Kunstgeschichte, der aber immerhin einen Goya an den Hof holte – verbesserten die Auftragslage nicht. 1770 mit 74 Jahren starb Tiepolo während der Arbeit an einer Kirchendekoration.[2]

Geradezu dramatisch und beispielhaft zeigt sich in diesem Madrider Ende das Aufscheinen einer bürgerlichen Kultur, eines bildnerischen, sentimentalen Rationalismus, der dann zwar gleich von Francisco Goya unerbittlich und realistisch wieder destruiert werden, dennoch als Zeitgeschmack noch bis ins 19. Jahrhundert weiterleben sollte. In Tiepolo verwirklichte sich dagegen noch der Impuls des Barock oder auch Rokoko ein letztes grandioses Mal. Seine Fresken, herausragend in Würzburg und von Samuel Beckett 1937 als „Überkrönung der von Neumann erzeugten Raumlosigkeit“ bzw. „Liquidierung architektonischer Grenzen“ bezeichnet,[3] markieren den nochmals strahlenden Höhepunkt einer künstlerischen Epoche, während die „Verbürgerlichung der Kultur“ sich parallel beispielweise im fortschrittlichen England etwa mit William Hogarth oder Laurence Sterne gleichfalls schon auf dem Gipfel ihrer künstlerischen Errungenschaften befindet. Warum sich also ein religiös motiviertes Gemälde anschauen, wenn Hogarth doch gerade für eine kritische Kunstwissenschaft und den Weg in unsere Moderne genug Anschauungsmaterial bündelt? Warum sich also mit einem Ende beschäftigen, wenn der Anfang unserer Zeitrechnung doch schon in summa ausgebreitet vor uns liegt? Selbst wenn Händel und Vivaldi noch den Takt angeben, werden u.a. die von nun an paradigmatischen Medien des Romans und in Folge der Bildergeschichte das Geschäft der Kultur bestimmen, d.h. eine Repräsentations- wird mehr und mehr durch eine Erzählkultur abgelöst, die nun selbst experimentell neue Formen einer Vergegenwärtigung von Zeit erproben wird.

Doch ist wieder einmal nicht alles so, wie es scheint. Was also sehen wir auf dem Stuttgarter Bild? Es ist eine absolut ruhige, stille Landschaft, die der 73jährige Maler uns hier vorführt, eine Landschaft, die zum größten Teil aus Himmel besteht, aus hellblauer Farbe, mit einigen kleinen Wolken unten. Rechts dagegen Wolkenmassen, die wie eine schneebedeckte Weiterführung schroffer Felsen modelliert sind, gegen die eine hohe Fichte kippt und gegen diese am untersten Ende fast winzig wiederum Maria, in blauen Farbtupfern als ferne Erscheinung hingelegt. Wir sehen den kleinen Kopf des Messias. Joseph liegt auch, stützt sich mit dem rechten Arm auf, den linken in die Seite gestemmt, um sich der angelehnten Mutter-Kind-Intimität zuzuwenden, Stock, roter Mantel und Wasserflasche hinter ihm. Leicht erhöht steht jener Esel, ohne den eine „Flucht nach Ägypten“ nicht sein könnte. Schwer bepackt schaut auch er ruhig hinüber zu den Protagonisten, die szenisch allerdings verschwindend klein in großartig wilder Landschaft gruppiert wurden. Es ist eine erzwungene Pause, die hier dargestellt ist, denn der dunkelgrüne Fluss, der dieses Gebirge durchschneidet, muss überwunden werden. Ein Steg zeigt an, dass ein Boot kommen könnte, und die lagernde Körpersprache des Josephs könnte entsprechend auch als Erwartungsspannung interpretiert werden.

Und tatsächlich: in einem weiteren Bild aus Lissabon sehen wir die Gruppe nun in einem Boot. Es ist ungefähr gleich groß, d.h. wir können hier von einem Paar sprechen, das zusammengehört, erzähltechnisch im Nachher zum Stuttgarter Bild. Das erwartete Boot ist da. Ein großartig kräftiger Engel stößt es mit seinem Stab vom Ufer ab. Um seine kostbare Fracht sicher zu transportieren, wird er unterstützt von einem weiteren Himmelsboten und einem Putto. Vorn turtelnde Symbolschwäne.

2) Giambattista Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, ca.1767-70, Öl auf Leinwand, 57 x 44 cm, Museu Nacional de Arte Antiga, Lissabon

Zwei weitere Alterswerke zum Thema zeigen dann die Gruppe unterwegs, Maria sitzt mit dem nackten Jesuskind im Schoß, von zwei Putti beflattert, während der nun doch sehr jünglingshafte Joseph in Ruhe an den Esel gelehnt wartet. Im Hintergrund breitet sich miniaturhaft die Silhouette von Madrid aus.

3) Giambattista Tiepolo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, ca.1767-70, Öl auf Leinwand, 60 x 45 cm, Sammlung Torre und Tasso, Bellagio

Ein weiteres Bild der Serie schließlich zeigt mehr das Unterwegssein, allerdings auch hier durch einen Zeitschnitt bestimmt. Die Gruppe ist an Land und wird begrüßt durch einen sich tief beugenden Engel, eine Haltung, die wir in Tiepolos spanischen Bildern „Abraham und die Engel“ und der „Verkündigung“ wiederfinden. Anbetung, Gruß, Unterwerfung, aber vielleicht auch eine Vorbereitung für ein segnendes Küssen des Bodens, den Maria nun betritt.

4) Giambattista Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, ca. 1767-70, Öl auf Leinwand, 59,4 x 40,8 cm, Privatsammlung New York

Diese vier Bilder bieten jeweils unterschiedliche Näherungen an ein Thema, das ausgehend von biblischen und apokryphen Texten seit dem 5. Jahrhundert mit wechselnden Bedeutungen in christlicher Ikonografie eine nicht unwesentliche Rolle spielt.[4] Einerseits verweist es auf das christliche Leben als praktische und geistige Pilgerreise, gleichzeitig wird es mit der Idee der „Imitatio Christi“ im 13. Jahrhundert (Berhard von Clairvaux) zum Bild der Menschlichkeit des Erlösers, das mehr und mehr ausgeschmückt wird, auch durch Elemente des geistlichen Schauspiels. Im Trecento wird das Motiv für die Entwicklung der Landschaftsmalerei, etwa Lorenzettis bedeutend. Schoole Mostafawy kommt in seiner Untersuchung „zur Ikonographie des biblischen Reisegeschehens“ zu dem Schluss: „Wie sich herausstellt, muß die Flucht nach Ägypten als ein bedeutendes Ereignis in der Kindheit Jesu angesehen werden, da es einen Wendepunkt im Leben des Kindes bezeichnet. Nach der feierlichen Anbetung der Heiligen Drei Könige wird das Kind zum Verlassen seiner Heimat gezwungen. Die Flucht vor den Häschern des Herodes, die ihm nach dem Leben trachten, deutet bereits im Vorfeld auf sein weiteres Schicksal. Die Flucht nach Ägypten ist das erste Ereignis, das nach theologischer Sicht auf den Tod des Messias verweist.“[5]

Im illustrativen Raum, den Bibel oder Apokryphen anbieten, ist die Flucht angesiedelt zwischen der Anbetung oder bei Giotto Darbringung im Tempel und dem Kindermord zu Bethlehems, der meist in äußerster Drastik von den Künstlern geschildert wird. Erzähltechnisch ergibt sich so die Möglichkeit, zwischen eine Repräsentation und einem großen Abschlachten so etwas wie ein landschaftlich interessantes Pausenbild zu kreieren. Je mehr jedoch Maria ins Zentrum katholischer Anbetung rückte und nachdem 1479 auch der heilige Joseph sein eignes Fest bekam, desto interessanter und lohnender wurde es, die Flucht nach Ägypten zunächst als Einzelthema zu isolieren und sie dann weiter mit Anekdoten und Wundern auszuschmücken. Das Material stammt aus den Apokryphen, denn das Evangelium selbst ist da etwas kurz angebunden. Es schildert in Mt 2, 13-23, wie Joseph im Traum ein Engel erscheint und ihn auffordert mit der Familie nach Ägypten zu fliehen und dort zu bleiben. Herodes fühlt sich von den Weisen aus dem Morgenland getäuscht und lässt in einem Massaker alle Neugeborenen seines Reichs töten. Nachdem er selbst gestorben war, fordert ein Engel wiederum Joseph im Traum auf, nach Nazareth zurück zu kehren. Die Apokryphen bieten für die Flucht dann schmückenden Zusatzstoff: So gibt es etwa Begleiter wie Jakobus, aber auch helfende Engel, wie wir schon gesehen haben. Diese tragen schon mal das Gepäck, spenden Schatten, streuen Blumen oder flirren einfach so herum. Dann gibt es Wunder: eine Dattelpalme neigt sich, um Mutter und Kind zu schützen, dann ein Kornfeldwunder, aber auch ein Götzenbild, das herunterfällt, als die Gruppe es passiert.

Mit solchen Geschehnissen beginnt der Weg selbst interessanter zu werden, sich überhaupt als Weg zu etablieren, als Urtyp des Roadmovie gewissermaßen. Es lassen sich Zeitmomente in die Bilderzählung einbauen, die ein Vorher und Nachher suggerieren und ein Unterwegssein. Es gilt also, Zeit sichtbar zu machen, Bewegung, Landschaft, Wetter als Zeitraum zu begreifen, um dadurch dem blassen Raumcharakter einer nackten Passage entgegenzuwirken. Zudem lässt sich oft schon durch kompositorische Details Bewegung suggerieren, wie es Georg Imdahl bereits für Giottos „Flucht nach Ägypten“ analysiert hat.

5) Giotto di Bondone, Flucht nach Ägypten, 1302-1305, Fresko, 200 x 185 cm, Capella degli Scrovegni, Padua

Hier in Padua sind es vor allem  Blickgeschichten, kleine Handlungen, wie die drängende Gestik des Engels, die Ausrichtung der Landschaft, das zielgerichtete Traben des Esels oder  das richtungsweisende Fingerzeigen, die hier Bewegung vorstellbar machen. In diesem Zusammenhang spricht Imdahl von einer „Iterationsstruktur im Sinne von Gleichzeitigkeit“: „Zum Beispiel ist im Bild der Flucht nach Ägypten die Iteration der Gewandsäume von Maria und Joseph offensichtlich: Entweder kommt Maria dorthin, wo Joseph schon ist, oder Maria ist eben jetzt dort, wo sie ist, während zugleich Joseph anderswo ist. Beide Versionen sind möglich..“[6] Giottos undramatische Zeitmomente gehören dann von nun an bis in unsere Ewigkeit zu den Bildstrategien des Erzählerischen, auch wenn sie sich eher im Hintergrund, bzw. erst bei eingehender Bildbetrachtung festmachen lassen.

Der von Imdahl, Edmund Husserl und Jacques Derrida verwendete Begriff der Iteration meint zunächst nichts anderes als mehrfache Wiederholung des Ähnlichen oder Gleichen und kann als ein Mittel des kontinuierenden Stils, wie in der österreichische Kunsthistoriker Franz Wickhoff beschrieben hat, begriffen werden:  „Das Kunstmittel der beständigen Wiederholung, das dem nachdenkenden Verstande die Einheit zu zerreißen scheint, erregt die Phantasie des Betrachters…“[7] Ausgangspunkt von Wickhoffs für die Bildergeschichte immer noch bedeutenden Überlegungen von 1898 sind die Illustrationen zur Wiener Genesis, ein Buch aus dem 6. Jahrhundert, der Spätantike also. Diese Illustrationen werden durch Wickhoff zu zentralen Kunstwerken, die – ähnlich wie Alois Riegel – nicht nur die negativen Einstellungen zu Spätantike relativieren, sondern eben auch die Grenzen zwischen angewandt und bildend in der Kunst durchlässig machten, ja zum Verschwinden brachten.[8]

Neben dem kontinuierenden Stil analysiert Wickhoff zunächst den komplettierenden Stil, der das zeitlich Getrennte in einer Übersicht zur Anschauung bringt, ein Verfahren, das zwar noch bei Poussin Wirkung zeigt, dann aber erst mit der Simultanität der Moderne wieder aufgegriffen wird. Schließlich dann der distinguierende Stil, der „ausgezeichnete Szenen einzeln bringt oder aber, durch Rahmenwerk getrennt, nebeneinander stellt.“ Bestimmend ist die „Auswahl des prägnanten Momentes“.[9] Max Imdahl versucht nun am Beispiel Giottos darauf zu verweisen, dass in den sich fügenden Einzelbildern des distinguierenden Stils sich die Zeit – wie schon gesagt – selbst schon als Ereignis von Gleichzeitigkeit und Bewegung, von Szene und Raumorganisation in den Körpern, Blicken, Landschaften ablesen lässt.

Es können also neben der distinguierenden Ordnung der Bilderzählung vor allem die kompositionellen Organisationen von innerbildlichen Zeitsystemen sein, die den Chronotopos Michail Bachtins nicht nur für den Roman, sondern auch im Sinne Wolfgang Kemps für das Bild verbindlich machen.[10] Es könnte daher die Frage gestellt werden, ob nicht die frühe Buchillustration, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass Zeit überhaupt in der Statik des Bildraum problematisiert werden kann, eben nicht nur am Anfang einer Theorie der Bilderzählung steht, sondern gerade auch das Chronotopische in den Meisterwerken von Giotto über Rembrandt bis zur heutigen künstlerischen Videosucht inauguriert hat. Ob diese Zeitelemente eher nach Außen gerichtet sind, um sich zur Erzählung zu formieren, im Bild selbst nicht nur als Aktion, sondern eben als symbolische oder realistische Embleme oder Elemente sich ausbreiten oder schließlich Thema des Bildes sind, ist für einen medialen Sonderweg etwa von Illustration oder Kunst unerheblich. Bildend oder angewandt: sie ergänzen sich in einer historisch zu differenzierenden Feier des Chronotopischen, wobei es eben nicht ausgemacht ist, welche Intensität wir vorziehen, die von Wilhelm Buschs ewigem Klavierspieler oder dem Akt Marcel Duchamps, der immer noch die Treppe herunterschreitet. Im Chronotopos vereinen sich Elemente der detaillierten und sukzessiven Zeitlichkeit etwa im Sinne einer inneren und äußeren Beweglichkeit, unabhängig vom Statuts angewandter oder bildender Kunstausübung. Die Strategien bleiben also immer die Gleichen, wenn es darum geht im Einzelbild oder in Folge Bilderzählung zu betreiben. Iterationen im Fluss.

Vielleicht ist das selbstverständlich, doch scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, da Konkrete Kunst, Suprematismus, Farbfeldmalerei, aber auch Werke von James Turrell oder gar die Videostücke von Bill Viola eine schon religiöse Überzeitlichkeit predigen, die sich dann letztlich auch im Wert auf dem Kapitalmarkt ausdrückt. Diese Werke erscheinen in ihrem Bestreben, ein Vorher und Nachher auszulöschen, überirdisch zu sein, Ausweis und gleichzeitig Ende eines künstlerischen Autonomiebegriffs, der es erst im Nachhinein möglich gemacht hat, angewandt und bildend polarisierend und wertschätzend zu trennen. Ja, es lässt sich sagen, dass selbst die Pop-Art, indem sie das Banale museal entzeitlicht, und die Postmoderne, indem sie schlicht vergrößert und so der Erzählung ihren Rahmen raubt, diesen Prozess einer Opposition von Illustration und Museum, von Erzählung und doch oft recht banaler Inszenierung von Unzeitlichkeit eher verschärft und globalisiert. Gerade deshalb scheint es mir notwendig, in den historischen Raum zurückzukehren, und dieser ist eben zutiefst chronotopisch. Es gilt, wieder zu lernen, was betrachtet werden will.

Zurück also zum Tiepolo in die Stuttgarter Staatsgalerie. Chronotopisch gesprochen herrscht hier relativer Stillstand. Nicht nur Warten, sondern auch gerade in der Figur der Maria Müdigkeit, eine lastende Müdigkeit, die sich in der nach hinten neigenden Pappel nicht nur fortsetzt, sondern den Raum selbst mit Vergangenheit auflädt. Die Kiefer ist das Monumentale, das in ihrer traurigen Isoliertheit die Fernsicht auf die Situation bestimmt und damit auch den Charakter der Wolken- und Bergformationen, die ja eh in ihrer Abgehobenheit und Schroffheit die Einsamkeit der Gruppe geradezu evozieren. In den poetischen Worten Roberto Calassos: „Er malt (…) insbesondere eine Kiefer, die sich an jenes helle, bröcklige, weder nach Italien noch nach Spanien gehörende Gestein lehnte und sich von ihm fast umarmen ließ. (…) Wichtig war der nackte Stamm, jene beiden schrägen Linien, die über die Leinwand hinliefen und die Malerei selbst waren, welche bis an den Rand des eiskalten Wassers reichte:“[11] Insgesamt ließe sich von einer umfassenden wartenden Ermattung in Einsamkeit sprechen, die Personen wie Natur umfasst hat.

Wie heißt es beim Tiepolo-Fan Beckett zur „Ruhe auf der Flucht“: “Und der Kreislauf geht weiter, mit Stocken, zwischen Flucht und Rast…“ Im nächsten, dem Lissaboner Bild der Serie Aktion, gemeinsame Tat und Sorge um die Sicherheit des Personals. Der halbnackte Engel stößt mit Kraft und Leichtigkeit zugleich, während der andere Engel die Leine einholt. Sie sind konzentriert dabei wie Bootsleute, ganz der Nahsicht ausgesetzt. Das ist hier nun die Gelegenheit, auf jene Stäbe und Stöcke hinzuweisen, dessen Sprache für Tiepolo oft so entscheidend ist. Sie verhalten sich natürlich immer im Verhältnis zum Horizont und zur Schwerkraft, bestimmen aber auf subtile Art  den chronotopischen Raum, etwa als Vektoren, Bildteilung oder Barrieren.[12] Im Stuttgarter Bild waren es die Kiefer in ihrer Schrägheit und der wie weggeworfene Wanderstab. In Lissabon nun die imposante, kunstvoll geführte Stake, die dem Bild eine Diagonale zwischen Aktion und Ruhe verpasst und sich in der Formation des Gebirges fortsetzt. Mindestens zwei Zeitmodalitäten also in einem Bild. Gleichzeitig aber auch noch die Zeit der verspielten Schwäne, die Urzeit des rauen Gebirges, die Flugzeit der Vögel, die flüchtige Zeit der Wolken, dann die geschichtliche Zeit eines Vorher, die sich mit der zukünftigen Zeit eines Nachher im Jetzt des Abstoßens eines Bootes vereint. Und  natürlich die Zeit des Wassers und nicht zuletzt die himmlische Zeit, die sich hier mit der Zeit der Arbeit verbindet. Und Joseph sitzt da mit seinem Wanderstock in Hab-Acht-Stellung und beobachtet interessiert, aber nicht beunruhigt das Ablegen. Auf Engel kann man sich eben verlassen. Ähnliche Zeitstrukturen lassen sich auch für die beiden anderen überlieferten Fluchtbilder konstatieren. Im Gemälde in Bellagio grenzt der Wanderstab auf dem Boden das Publikum vom wartenden Joseph ab und verweist gleichzeitig auf Madrid, während die Bäume, über Kreuz gewachsen, das Ende des Messias verkünden und gleichzeitig eine weitläufige Öffnung schaffen für die Stadtperipherie. Im letzten Bild der Serie mit dem sich niederwerfenden Engel (New York) verharrt alles im Modus der Anbetung. Es ist die Stille der Aktion selbst, die sich links aus der Dunkelheit mit dem betenden Mann im Boot entwickelt, über den getrockneten Ast gleitet, der auf eine Grabplatte mit hebräischer Inschrift verweist und den Raum insgesamt auf die untere Hälfte konzentriert. Endlich hat auch Joseph seinen Stock in der Hand und schaut wiederum interessiert der Zeremonie zu.

Mir geht es hier darum zu verdeutlich, dass wir es in diesen Bilden mit stärksten binnenzeitlichen Verweisen zu tun haben, die biblisch, realistisch, naturhistorisch, oder landschaftlich motiviert sind, dass die Landschaft selbst menschheitsgeschichtliche Spuren trägt und den ebenso wie die Stöcke und Stäbe den Chronotopos erheblich verstärkt. All dies in einer Kunst, die gleichwohl in der Verbindungen von zeitlichen Dimensionen in den großartigen freskierten Raumsituationen der Repräsentation etwa in Würzburg ihren Ausdruck fand, hier aber in den bescheidenen Szenen einer Flucht nochmals in aller Deutlichkeit sichtbar wird. Sicherlich ist es die Art und Weise der Malerei selbst, die das Chronotopische so ausdrücklich in den Vordergrund rückt, gerade auch dann, wenn eigentlich nichts oder alltägliches passiert. Es ist die viel besprochene Leichtigkeit Tiepolos, die gleichzeitig immer etwas unglaublich Illustratives hat, da Fresken wie Ölmalereien eigentlich wie aquarelliert wirken und es jenes feine Lineament gibt, das die Konturen von Figuren und Landschaft ausprägt. Die Farben besitzen, wie Svetlana Alpers und Michael Baxandall für Würzburg sie beschreiben, nicht nur helle Tönungen, die musikalisch mehrstufig angelegt sind und in größter Vielfalt erscheinen. So entsteht ein „Timbre“.[13] Jede Farbe ist in ihren differentesten Schattierungen sichtbar. Kaum, dass eine Farbe sich einmal primär durchsetzt. So ergeben sich durch die Modulation von Farben minimalste Bewegungen, Beweglichkeiten.[14] Stumme Vibrationen, die hier durch die zeichnerischen Fähigkeiten eines dünnen schwarzen Pinsels  skizzenhaft geordnet werden. Der Malweise selbst ist so schon die Zeit eines Vorher, Nachher inhärent. Das Machen wird eben nicht ausgelöscht, sondern bleibt in den Spuren der Farben und des Zeichnerischen überdeutlich sichtbar.[15] Übrigens sind von Tiepolo ca. dreitausend Zeichnungen erhalten. Könnten wir den Verdacht haben, dass diese letzten Werke Tiepolos jenen bis auf etwa Gustav Doré oft nur schwer erträglichen illustrativen Raum eines religiösen 19. Jahrhunderts präfigurieren, so werden wir spätestens bei Einsicht in die Machart dieser Bilder von einer anbiedernden Süßigkeit nichts wiederfinden, vielmehr verführt das Stuttgarter Bild Interpreten wie Roberto Calasso, dem ich auch den Hinweis auf die Stöcke und Stäbe verdanke, vom vollendeten Werk des Spätstils zu sprechen.[16] Denn zur Präsentation der Machart kommt erstaunlicherweise eine Hierarchielosigkeit der Teile, die uns in die Lage versetzt, das Einzelne als das Zeitliche wahrzunehmen. Der Fluxus-Künstler Robert Filliou sollte das dann Äquivalenzprinzip nennen.[17]

Damit nun sind wir endlich beim Thema; denn der Vater Giambattista folgt hier im Wesentlichen einer Grundidee seines Sohnes Giandomenico, der 1753 „Seiner hochwürdigsten Hoheit/ Monseigneur/ Carl Philipp/ Fürsten des Heiligen Römischen Reiches/ Bischof von Würzburg/ Herzog von Ostfranken/ usw. usw.“ zum Abschied von Würzburg und zum Dank eine Mappe von 27 Radierungen überreichte. Alle Blätter des Werks sind ca. 20 x 27 cm groß. Titel: „Malerische Ideen/ über/ die Flucht nach Ägypten/ von / Jesus, Maria und Joseph/ Werk/ erfunden und gestochen/ von mir/ Giovanni Domenica Tiepolo/ am/ Hofe der besagten/ Hochwürdigsten Hoheit usw. usw./ im Jahre 1753.“

 6) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, 1750-53, 27 Radierungen, ca. 20 x 27 cm: Frontispiz.

7) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Widmung

Meine folgenden Betrachtungen dazu basieren im Wesentlichen auf die kunsthistorischen Untersuchungen von Christofer Conrad für die Staatsgalerie Stuttgart – die den wohl bestens erhaltenen und vollständigen Zyklus in ihrer Graphischen Sammlung hütet –[18], von Felix Reuße, der für das  Augustinermuseum Freiburg einen monografischen Katalog bearbeitete,[19] von Hein-Th. Schulze Altcappenberg, der 1996 aus den Beständen des Berliner Kupferstichkabinetts eine Ausstellung mit Zeichnungen und Radierungen von Giovanni Battista Tiepolo veranstaltete,[20] und schließlich auf die Monographie von Harald Keller.[21]

Eigentlich hätte ich mit diesen Radierungen beginnen müssen, um das Werk des Vaters dann in ordentlich zeitlicher Folge dranzuhängen. Doch beide haben zusammen in Würzburg gearbeitet, beide haben in der Malerei einen ähnlichen Stil des Leichten, Hellen, und sind beide doch so unterschiedlich wie Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, um in der Zeit zu bleiben. Wobei letzterer wie Giandomenico in der neue Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit schon angekommen ist.

Während also der Vater mit den Söhnen drei Jahre in Würzburg verbrachte, entstand nach und nach jene Sammlung von „malerischen Ideen“, die vor allem aus Variationen von Situationen gebildet wurden, wie wir sie ähnlich für den Vater schon analysiert haben. Hier jedoch weitet sich der Raum noch frappanter in Richtung Bilderzählung – heute gern als graphic novel bezeichnet – mit einem anscheinend vermeidlich konkreten Anfang und Schluss.[22] Es beginnt mit Josef, der Mutter und Kind zu Flucht auffordert.

8) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Joseph kündigt Maria den kommenden Aufbruch an.

Schon hier sehen wir, was Tiepolo über den Radierer Giovanni Benedetto Castiglione von Rembrandt gelernt hatte.[23] Alles ist in Hell-Dunkel-Schattierung getaucht. Der Raum ist hoch und grob, das Bett eine Übung in Faltenpracht. Joseph verharrt im Dunkel und weist mit großer Geste auf die hell erleuchtet Mariengruppe mit den eher versteckten Engelsgestalten, eine Geste, die gleichzeitig die drohende Gefahr in den Fingern vor der Lichtöffnung aktualisiert. Denn diese sind die eines alten Mannes, der mit der anderen Hand seinen Stock hält, wie es realistischer nur Hogarth hätte machen können. Was beim Vater fehlt, ist hier präsent: Maria und Joseph tragen Nimbus. Dies ist das einzige Interieur des Zyklus; Maria ist jung, das Kind schon recht erwachsen. Die Strichführung des Ganzen ist ausgesprochen fein und ersetzt Farbe durch Struktur und Muster, so dass auch hier von Vibration und inhärenter Zeitlichkeit gesprochen werden kann, die sich vor allem in den Richtungen der jeweiligen Feldstrichelungen ablesen lässt.

9) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Der Aufbruch zur Reise.

In der nächsten Szene wird das Interieur zum Stall zu Bethlehem. Der vorn schwebende Engel drängt zum Aufbruch, der Esel scharrt mit den Hufen, Joseph hat seinen Stock geschultert. In Blatt 6 hat der Esel seine Position im Bild beibehalten, und Maria hat auf ihm Platz genommen.

10) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Maria, auf dem Esel sitzend, bittet Joseph, ihr das Kind zu reichen – Eierverkäuferin

Die Palme des vorigen Bildes ist dagegen nach rechts gerutscht. Insgesamt bietet die Gruppe doch einen verworrenen Haufen aus sechs Personen, wobei der vordere Engel den Esel zieht, während Joseph mit dem Kind aber noch sitzt. Diese Diskrepanz lässt sich auch chronotopisch nicht mit einem Vorher, Nachher auflösen. Es entsteht hier gleich am Anfang schon ein Bewegungszwiespalt, eine Art Dramaturgie des Diagonalen von rechts unten nach links, die aber als Körperballung empfunden wird. Hier bittet also Maria den Joseph ihr das Kind zu reichen. Joseph nimmt vorübergehend die Rolle der Mutter an. Er emanzipiert sich (Elternteilzeit), während rechts eine merkwürdig unpassende Eierfrau platziert ist, die von Tizian übernommen wurde. Die Zeitspuren reichen bis ins übermäßige kunstgeschichtliche Zitat. Diese Radierung ist in ihren Zeitdimensionen äußerst unruhig, unklar, obwohl Palme und Hauswand rechts die Richtung des Umzugs vorgeben. Es ist ein Zwischenbild, eine Improvisation über Verharren und Aufbruch, Sitzen und Stehen, Kommunikation und Abseits.

Eine fast schon piranesihafte Toreinfahrt versetzt den eben noch so mutigen Joseph wieder in den Schatten, während Maria von hinten beleuchtet wird und eine Gruppe unterschiedlichster Menschen, angeführt von einem Orientalen, die Abreise aus Bethlehem verfolgen.

11) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie passiert das Stadttor.

Felix Reuße macht darauf aufmerksam, dass dieser Abschied seine Spiegelung in der Ankunft in einer ägyptischen Stadt erfährt.

12) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Ankunft der Heiligen Familie an einem Stadttor.

Hier sind ebenfalls Torbogen und Menschansammlungen Raum schaffend, aber jetzt sind die Leute unterwegs, ziehen also die Fluchtgruppe in die Stadt hinein. Reuße: „Erst im Vergleich der Szenen erschließt sich die Kunstfertigkeit Giandomenicos, der die Gruppen wendet, wie es ihm gefällt, um der Konstellation immer neue Gesichtspunkte abzugewinnen. Schrittstellung und Hinterteil des Esels findet man fast wörtlich wieder und selbst ein dem Esel aufgebürdetes Fass, das man in den übrigen Blättern vergeblich sucht, ist hier mitaufgenommen. Auch die Personengruppe darf man als eine bewusste Bezugnahme verstehen. Tatsächlich begegnen auch hier die markante Gestalt des Turbanträgers mit den hinter den Rücken verschränkten Händen, der einem Propheten ähnlichen Weißbärtige und die Frau, die einen Korb trägt. Selbst die Laterne sollte wohl ursprünglich wiederkehren, wie die pentimenti unter dem Bogenscheitel zeigen. Giandomenico rechnet also mit einem vergleichenden, für derartige Bezüge sensibilisierten Betrachter, der nicht nur die direkt aufeinanderfolgenden, sondern auch weit aufeinanderliegenden Szenen miteinander in Beziehung setzt.“[24]

Doch welche Konsequenzen hat ein solch zyklischer Aufbau distinguierter Szenen eigentlich, wenn das Ende der Reise ähnlich dem Anfang ist? Man könnte hier von einem Loop sprechen,[25] von einem schon fast unendlichen Zirkulieren der Reisegruppe (Beckett: „Der Kreislauf geht weiter…), wenn wir durch das Vervielfältigen der Reisemodalitäten selbst vergessen, dass mit dem letzten Bild in der Bibel eine neue Erzählung anfängt. Noch komplexer wird die Sache, wenn wir die restlichen 19 Blätter betrachten, die zwischen dieses beiden liegen. Denn was wir nun erleben, lässt sich zwar mit dem Begriff der „Variation“ umschreiben, doch Tiepolo spricht von „Idée Pittoresche“, das mit „malerische Ideen“ nur ungenügend übersetzt scheint. Vielmehr geht es um die Vielfalt von Einfällen, von Komposition, Themen, Situationen, die diesem doch recht unaufgeregten Thema aus stetigen Iterationen abgewonnen werden können. Helene Trottmann verweist in diesem Zusammenhang auf das italienische Fugga (Flucht) und die Nähe zur Fuge in der Musik, als Iteration und Variation eines bestimmten Themas.[26] Somit wird diese Flucht zum frühen Modellfall einer simulierten erzählerischen Kontinuität, die aber durch den Einfallsreichtum des Illustrators gleichzeitig aufgehoben wird. Die Zeit, die gezeigt wird, kommt gleichzeitig zum Stillstand. Die Bewegungen sind da, der Esel ist unterwegs und das Ganze endet ungefähr dort, wo es angefangen hat.

Folgen wir also den Weg durch die natürlich im Querformat angelegte Bilderwelt, entdecken wir die Abwechslungen von Reise und Pause, von Rück- und Vorderseite des Esels und der Gruppe, vom Auf und Ab durch unterschiedlichste Landschaftsformationen. Oft prallen die Richtungen von Links oder Rechts in der Abfolge aufeinander. Immer wieder rotten sich Engelgruppen zusammen, erscheinen Himmelsstrahlungen. Es gibt Verdichtungen, aber auch außergewöhnlich leere Räume. Kurz, die chronotopischen Elemente, die jeder einzelnen Radierung inhärent sind, konstituieren sich nicht in distinguierender Folge, sondern bleiben jeweils paradoxerweise zunächst bei sich, obwohl natürlich die Fluchtgruppe ostinat ist. Davon hat auch der Vater gelernt. So ist zum Beispiel Joseph wie beim Sohn unterschiedlich alt, vom Jüngling bis zum Greis, und so ist ein Ort am Fluss mit einem Steg immer ein anderer Ort, aber nicht weil die Perspektive gewechselt hat. Es bleibt quasi nur das Gerüst, bzw. die Idee einer Ortsbestimmung, das Aussehen ändert sich willkürlich. Es ließe sich auch von einer Abstraktion situationsbestimmter Elemente reden, wie sie dann im Comic des 20. Jahrhundert sprechend werden.

13) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie zieht an der Stadtmauer vorbei, darüber Gottvater.

Die Sache mit dem Boot umfasst bei Giandomenico fünf Blätter, und wir sehen deutlich, was der Vater hier vom Sohn übernommen hat. Blatt 14 zeigt die Gruppe mit einem schon fast beschwingten Joseph, der sich der Barke annähert, die von einem Engel mit Stake in Position gebracht wird.

14) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie erreicht den Fluss.

In Blatt 15 ist die Gruppe inklusive Esel nur von hinten zu sehen, während eine Windböe Marias Umhang durcheinanderwirbelt.

15) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie auf dem Weg zum Kahn.

Allein wie der Steg hier gefasst ist und sich in den Chronotopos hineinschiebt, während zwei Engel – von einem sieht man nur den Nimbus – ins Boot helfen, ist sensationell. Eigentlich müsste dieser Steg noch auf Blatt 16 zu sehen sein, da die Barke noch am Ufer liegt und Maria noch nicht sicher in dem schwankenden Boot sitzt, das nun am Stak verankert ist. Dann endlich sitzen alle.

16) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie besteigt den Kahn, assistiert von zwei Engeln.

17) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Ein Engel setzt die Heilige Familie über.

Der Engel, jetzt wieder allein, tut seine Arbeit, Maria lehnt sich an den Esel, und wie beim Vater sind auch die Schwäne anwesend. Schließlich ist das Ufer erreicht.

18) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie verlässt den Kahn.

Ein Steg ist da, den der voraustrottende Esel allerdings nicht benutzt zu haben scheint. Die Chronologie ist also in Ordnung, aber die Ortszusammenhänge differieren. Wie gesagt, solche Unstimmigkeiten ziehen sich durch den ganzen Zyklus. Allgemein wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass Giandomenico die Radierungen zu unterschiedlichen Zeiten angefertigt habe, doch dürfte das Argument für einen versierten Freskomaler nicht ziehen. Vielmehr scheint es der Künstler darauf angelegt zu haben, die Bewegung durch Raum und Zeit nicht kontinuierlich ablesbar zu machen. Was vielmehr im Vordergrund steht, ist eine interessante Bildfindung und nicht der Plot.[27] Es ist das Erzählerische selbst, das in jeder Reise als Verschiebung von Ort und Zeit angelegt ist, sich zumeist zyklisch entäußert[28] und schließlich auch schon klassisch fast hundert Jahre später den Beginn des Mediums Bildromans etwa bei Rodolphe Töpffer inspirieren sollte,[29] in dem alles in Bewegung, weil ständig unterwegs ist. Bildeinfälle werden durch Unterwegssein geradezu evoziert. Doch auch schon bei Hogarth gibt es neben den Interieurs in den „Moral subjects“ das Kutschenwesen und die Wanderung.

Aus Gründen besagter Variationen gilt Giandomenicos Zyklus auch als Capriccio, als eine Kunst, die sich seit dem Manierismus den Launen des Einfalls aussetzt, eine moderne Kunst also, in der die kompositionelle Idee, aber auch das Anamorphotische dem Naturalismus vorgeschaltet wird.[30] Interessanterweise ist es das Capriccio, das von Jacques Callot über Piranesi bis hin zu Goya jene grafischen Zyklen hervorgebracht hat, die bis heute beispielhaft den Möglichkeitsraum von Illustration und Bildgeschichte abgesteckt und gleichzeitig den illustrativen Zwang im Sinne eines Realismus, einer Naturwahrheit oder eines Kontinuum von sich gewiesen haben. War es vordem die Buchillustration, die den Chronotopos in der Malerei auf den Weg brachte, sind es jetzt die grafischen Folgen des Capriccios, die letztlich das chronotopische Modell wieder in Frage stellen und damit die vorgegebene Einheit von Zeit und Raum.

Es ist der Vater, der die Bedingungen einer kontinuierlichen Erzählweise in seinen Capriccio-Zyklen aufgegeben hat. In den „Vari Capricci“ von 1741/43 geht es exemplarisch fast ausschließlich um kompositionelle Fügungen von Personen, Personengruppen, Tieren, Objekten im Zusammenhang von Landschaft, Ruinen, Sockeln etc., wobei Stangen, Stöcke, Äste Richtungen vorgeben, Achsen bestimmen oder Perspektiven verdeutlichen. Das Arsenal der Gegenstände oder Menschentypen stammt aus einer arkadischen Antike, gemischt mit orientalischen, ägyptischen Elementen. Zentral scheint eine pagane Magie zu sein, von der nicht nur Altäre, Obelisken, Grabsteine etc. zeugen: alles wie bei Piranesi im Hohen Stil. Zum Lachen sind also die Grotesken nicht ausersehen. Zeit und Ort sind so unbestimmbar, dass das Rätsel solcher Variationen letztlich nicht gelöst werden kann. Allein der Vanitas-Gedanke zieht sich thematisch durch diesen Zyklus, in der die Zeit wie unbeweglich erscheint, trotz der Iterationen einzelner Figuren und Dinge.

1743-1750 entsteht der nächste graphische Zyklus des Vaters, die „Scherzi di Fantasia“ mit 23 Blättern.

19) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,5 x 17,8, Magier mit einem Soldaten und anderen Figuren zwischen einem Obeliskenstumpf und einem brennenden Opferaltar mit Schädel und Knochen.

Hier wird all’ das Rätselhafte in Richtung Verwicklung weiter entwickelt. Kaum ein Geschehen lässt sich analysierend auf den Punkt bringen. In diesem „sonderbaren Arkadien des Todes“,[31] so Norbert Miller häufen sich die Widersprüche, gerade weil sich die Iterationen von Magiern, Faunen, Schlangen, Eulen, Hirten, Schafen, Steinen, Kunstwerken so verdichten. Es wurde darauf verwiesen, dass Giambattista um 1724 als Zeichner von Altertümern gearbeitet hat. Ferner ist interessant, dass der in Venedig außerordentlich bekannte Philosoph Giambattista Vico in seinen „Prinzipien einer neuen Wissenschaft“ von den drei Weltanschauungen der Zeitalter gesprochen hat, den abergläubischen, heroischen, menschlichen. Wir scheinen uns hier im abergläubischen zu befinden, in dem Mythen, Rituale, Fantasien und das Poetische herrschen. Auch könnte das Arsenal der Kunst- und Wunderkammern herangezogen werden, indem sich Antike, Wissenschaft und Aberglaube ein Stelldichein geben. Ebenfalls lassen sich Bezüge zu den Hexendarstellungen bei Salvatore Rosa herstellen, ein weiteres Vorbild Tiepolos.[32]

In diesem Zyklus Tiepolos findet die Form des Capriccios ihre radikale Vollendung als “programmatische Nichtverstehbarkeit“. Frank Büttner: „Die argumentative Struktur ist in diesen Darstellungen nur simuliert. (…) Die simulierte Bedeutsamkeit, hinter der keine in einem rationalen Satz faßbare Bedeutung mehr steht, war geeignet, die Willkür der konventionellen allegorischen und damals omnipräsenten Bildsprache bewußt zu machen.“[33] Indem Tiepolo also diese Räume des Ikonographischen durchmisst und ihre Elemente miteinander in Beziehung setzt, praktiziert er ein Art Anarchie der Sichtbarkeit, die bis heute in ihrer radikalen Konsequenz kaum eingeholt wurde.

20) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,3 x 18 cm, Ein Magier und sein Gefolge beobachten den Schlangentanz vor einem Brandopferaltar mit antikem Relief, einer Eule und Pansherme.

Tiepolo illustriert das Illustrative seiner Zeit als Stillstand. Er schafft hier Metaillustrationen, die auf den ersten Blick durchaus verständlich erscheinen, dann aber sich in Bildhieroglyphen auflösen. Büttner weist darauf hin, dass Tiepolo solche capricciohaften Elemente auch im Deckenfresko von Würzburg einsetzte und damit quasi den dort vermittelten Herrschaftsanspruch subversiv konterkarierte.[34] Die großen Künstler des Barocks waren zumeist immer auch subversiv.

Den Anspruch der Capriccios Giambattistas auf eine spielerische Entspannung des Freskomalers zu reduzieren, wäre nicht nur angesichts der Qualität, sondern auch der Konsequenz dieser Blätter ein Fehler. Und die Interpreten damals wie heute müssen damit leben, dass da etwas ist, das von der Anlage her verstanden werden könnte, aber nicht verstanden werden will, zumal die Iterationen auch hier distinguiert wuchern. Vielmehr besaß dieses Interesse an Rätselhaftigkeit seinen Vorläufer in dem 1499 publizierten Hynerotomachia Poliphili des Francesco Colonna, dessen 174 Illustrationen der Liebesgeschichte die Künstler von Tizian bis Bernini angeregt hatten.[35] Teilweise wurden die Illustrationen auch direkt kopiert. Wenn also von einem Illustrationsimpuls zu sprechen ist, dann sind natürlich die illuminierten Bücher des Mittelalters entscheidend, vor allem aber dieses Buch Colonnas mit seinem Bilderschatz an Holzschnitten. Das Rätsel wird hier noch in Text-Bild-Kombination zum Motor. Bald aber fehlt der Text oder wird simuliert wie bei Tiepolo. Das macht natürlich alles noch komplizierter, auch im Gegensatz zu Goya, wo zumindest ein Untertitel uns auf die Spur setzen. Beide Künstler verbindet eine Eulen- und Hexenmanie.

21) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,6 x 17,6 cm, Titelblatt.

Tiepolo nutzte die Form des Capriccios, um den Sinn zugunsten des Rätsels zu demontieren. Danach konnte es mit der radikalen Gesellschaftskritik eines Goyas konsequent weitergehen.

Tiepolo hatte die Veröffentlichung der ebenfalls in Würzburg entstandenen „Scherzi di Fantasia“ versäumt. Auch in diesem Titel klingt wieder das Musikalische an, das Variationsmodel auf der ostinaten Basslinie. Fünfzehn wurden schließlich 1773 nach dem Tod des Künstlers vom Sohn Giandomenico unter dem Titel „Capricci“ publiziert. Goyas Zyklus entsteht dann ca. 25 Jahre später. Was aber haben die graphischen Zyklen, die das Nichtverstehen, Rätsel- und Fantasiehafte zum Motor machen für einen Auftrag? Sind hier Vorläufer einer Künstlerautonomie qua Illustration zu besichtigen? Vielleicht. Entscheidend ist aber, dass es bei der Betrachtung dieser Serien zunächst bei Hofe, dann im bürgerlichen Rahmen darauf hinauslief, eine Form gemeinschaftlichen Zeigens, Sprechens, Analysierens zu etablieren. Die Käufer von Rätselbildern trainierten quasi ihren Geist und ihr Wissen in Konfrontation mit den Bildern. Daher auch immer die innerbildlichen Verweise auf bekannte Werke oder bekannte Situationen, Gebäude, die dann aber letztlich nicht weiterbringen. Gleichzeitig führt das gemeinsame Nichtverstehen zu größten Beachtung des Handwerklichen selbst, zur Darstellungsart, zur Delikatesse des Machens selbst, denn der damalige Sammler wollte nach dem Modell der Kunst- und Wunderkammern sich unterhalten, wollte staunen, um zu wissen. Wir sollten also in Beurteilung der Kunst bis zum Ende des Barocks davon ausgehen, dass das Individualistische unserer Art der Kunstbetrachtung nicht primäres Ziel künstlerischer Bemühungen war.[36] Insofern war es nur konsequent, dass der Sohn die Arbeit des Vaters schließlich publizierte; denn je rätselhafter, um so origineller die Gespräche und umso feiner die Beobachtungen.

Doch zurück zur „Flucht nach Ägypten“, die in der kunstwissenschaftlichen Literatur ebenfalls als Capriccio gewertet wird.

22) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie beim Abstieg von einer Anhöhe.

Die Neuerung des Sohnes besteht nun darin, dass er ein religiöses, bekanntes Thema für seine Fantasieläufe nutzt und in Bewegung setzt. Das zumindest ist im vornehmlich paganen Raum des Capriccios recht außergewöhnlich. Er dehnt quasi ein religiöses Andachtsbild, wie es noch Elsheimer so vollendet malen konnte, chronotopisch aus. Er zeigt die Passage, die Reise als Form divergierender Eindrücke und macht das Passieren damit durchlässig für die Widersprüche dessen, was wir glauben, sehen zu können. Darin ist er sich mit seinem Vater einig. Während dieser also an den höchst paganen „Scherzi“ arbeitet, radiert sein Sohn eine biblische Legende, dessen Personal und Story bis zum Abwinken bekannt ist. Er muss also den Blick des Betrachters auf merkwürdige Körpersituationen, perspektivische Blicke, Zeitzerlegungen und –sprünge, sowie eine abwechslungsreiche Natur lenken und diese dann bevölkern mit Engelwesen, die ihr Flügelzeug und ihre Kräfte schon fast zu irdisch einsetzen. Und natürlich mit Beobachtern, differenzierten Gruppen. Interessant ist nun, an welchen Punkten sich Vater und Sohn treffen. Natürlich sind es die Stöcke und Stäbe, die Baumstämme und Äste, die von beiden genial eingesetzt werden, um die Graphik chronotopisch bewegt werden zu lassen und gleichzeitig zu stabilisieren. Beim Sohn ist es vor allem der Wanderstock Josephs, der beispielsweise in Bezug auf die Himmelsstrahlen höchst eigenwillige Raumsituationen kreiert. Dann sind es Hügel, die schon beim Vater, aber noch dramatischer beim Sohn für radikale Perspektiv- und damit Körperansichten sorgen. Worin aber beide eine Meisterschaft ausbilden, ist die Sprache der Blicke, die je nach Richtung sich begegnen, vertraut, fremd oder isolierend eine Szene ausbilden. Diese Blicke gehen zusammen mit den Körperhaltungen und geben quasi dem Binnenchronotopos eine Richtung. Sie wenden sich uns als Betrachter nur selten zu. Sie bilden stattdessen Kreise von Intimität aus, in die wir nicht eindringen können. Sie verweigern sich besonders beim Vater, während der Sohn noch konsequenter die Protagonisten in 30% der Erzählung in Rückansicht zeigt.

Plötzlich gibt es dann beim Vater eine Szene, die nach Ruhe auf der Flucht aussieht, aber nichts anderes als eine mit sich selbst beschäftigte, schläfrige Gruppe im antiken Raum mit vielerlei Getier vorstellt.

23) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,6 x 17,8 cm, Sitzende Frau mit Kind, umgeben von einem Hund, einem Esel, einem Knaben und Geräten.

24) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Joseph trägt das Kind, flankiert von Maria und einem Engel.

Und auch das versinkende antike Relieffragment auf Blatt 12 der „Flucht“ findet sich ähnlich in den „Scherzi“. Beim Sohn hält der alte Joseph wieder das Kind, von einem fast schon ekstatischen Engel begleitet, der nun den Stock vorwärts richtet. Maria in sich versunken, während eine Menschenmenge den Hügel erklimmt. Der Esel ist fast verschwunden, unten dann neben einem antiken Kopffragment das versunkende Relief. Beim Vater sehen wir die Rückenfigur eines sitzenden Hirten mit drei stehenden Magiern.

25) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,7 x 17,5 cm., Jüngling zwischen dem Magier mit Affen und einem Ochsen.

Die versunkene Antike ist noch da, wie immer als Vanitas vanitatum. Nicht Sieg wird hier gepredigt, sondern Akzeptanz, betrachtende Gleichmut. In Blatt 12 der „Flucht“ dagegen Überwindung, schon fast triumphierend, denn es ist der Messias, der hier eine neue Zeit aufscheinen lässt, ähnlich wie in Blatt 22, wo, und da folgt der Sohn den Apokryphen, eine heidnische, halbnackte Figur den Kopf verliert, während die heilige Gruppe passiert.

26) Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Beim Einzug nach Ägypten zerspringt ein Götzenbild.

Beim Vater sind diese erotischen Wesen, durchaus auch im Sinne einer Antike Colonnas, als Faun oder Venus noch höchst lebendig, wenn auch schon etwas melancholisch. Interessant ist auch, wie beim Sohn der Kopf fällt und einen Schatten wirft: ein Vorgriff auf die Bilderzählung des 19. Jahrhunderts, den Bildroman, wie ihn Alexander Roob so glücklich analysiert hat.[37]

Dann aber gibt es bei den „Scherzi“ des Vaters einen Bruch, der entscheidend werden sollte. Er führt die aus der venizianischen Commedia dell’arte bekannte Figur des Pulcinella in dieses Todesarkadien ein, lässt ihn gar wieder auferstehen im Reich der Vanitas, lässt ihn begaffen vom Personal des Magischen und den überlebenden Antiken, bekrönt von Stundenglas und Knochen.

27) Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 23,4 x 18,1 cm., Die Entdeckung des Grabes von Pulcinella.

Dieser Pulcinella ist definiert durch seinen Bauch, seine Nase und den überlangen Hut. Er ist die Figur des Grotesken schlechthin. Giambattista hat ihn schon frühzeitig immer wieder gezeichnet. Die Faszination, die von dieser Figur noch heute ausgeht, könnte in der Verkörperung der „Phantasie“ schlechthin zu suchen sein, im „Geist der Improvisation, der bei jedem Versuch, in jeder Ausführung, vor jedem Publikum sich neu aus dem Augenblick gewinnt und der doch zugleich einer Art Geheimgesellschaft verwandter Masken, Typen, Phantasten angehört, die der Zeit zu trotzen wissen.“[38] Diese schöne Analyse Norbert Millers kennzeichnet eigentlich jede moderne Comicfigur. Der Vater zeigt in freier Improvisation des Grotesken im Alltäglichen die Pulcinelle mal schlafend, mal zeigend, mal scheißend, mal Gnocchi oder Polenta kochend.

28) Georg Friedrich Schmidt nach Giambattista Tiepolo, Pulcinelle kochen Polenta, Grafik, 21,2 x 22,3

29) Giamdomenico Tiepolo, Das Hängen, Zeichnung, 29,6 x 41,5

Und wir sehen auch hier wieder, dass es um Situationen geht, die Geschichten ausbilden könnten, dass das Distinguierende einzelner Blätter eine Zugehörigkeit beschreibt, die allerdings nicht logisch eine Kontinuität ausbildet. Es scheint sich in den graphischen Zyklen von Vater und Sohn also um so etwas wie Digressionen, wie Abschweifungen zu handeln, eine Ästhetik, die zu gleichen Zeit vom Romanautor Laurence Sterne theoretisch und praktisch ausgebildet wird. Die Digression zeigt letztendlich, dass am Anfang der höchst erfolgreichen bürgerlichen Geschichte des Romans auch gleich sein Ende mitformuliert wird, nämlich die Unmöglichkeit der Erzählung, dem Leben gerecht zu werden.[39] So auch hier bei Vater und Sohn Tiepolo, die in immer neuen Ansätzen Modalitäten von Zeit an bekannten Typen neu konfigurieren. Es entsteht nicht eine Erzählung, es sind Erzählungen, die dort am Horizont aufsteigen.

Vor allem der Sohn wird sich dann in Zeichnungen und Malereien bis zu seinem Lebensende mit dem Typus des Pulcinella auseinandersetzen – bis zur letzten Konsequenz des Todes der Kunstfigur durch Erschießen und Erhängen.[40]

30) Giamdomenico Tiepolo, Das Hängen, Zeichnung, 29,6 x 41,5.

Denn auch solche Praktiken gehören selbstverständlich zum Alltag der Zeit, und paradoxer Weise bricht in diesen Zeichnungen die Wirklichkeit ins Groteske ein. Das Brutale, Flätige und Kindische vermischt sich im grotesken Raum dieser Capriccios in unerhörter Weise, in Bildfindungen, die bis heute nichts von ihrer verstörenden Eindringlichkeit verloren haben. So sind es letztendlich die Puchinellis, die schließlich im Deckenfresko über den Köpfen der Betrachter ihren Tanz aufführen, vor einem Himmel, der gerade noch der „Ruhe auf der Flucht“ das Chaotische verweigerte. Der Blick auf diese „Ruhe“ führte uns in merkwürdige Gefilde des stockenden, handelnden, stillen Erzählens und damit in ein noch unerlöstes Reich des Illustrativen, das zwar der Bildergeschichte gegenüber offen ist, aber die Fragen nach der Figur, der Perspektive, des Loops, der feinen und harten Modalitäten und der Bewegungen in der Zeit stellt, nach Bedingungen also, die das Ereignis in einer Bildergeschichte zum Bild werden lässt.

31) Giandomenico Tiepolo, Pulcinella auf der Schaukel mit Gefährten, 1797, Deckenfresko, Ca’Rezzonico, Venedig

[1] Vgl. u.a. Filippo Pedrocco, Tiepolo, (Köln) 2003; S. 311f.

[2] Vgl. u.a. Chantal Eschenfelder, Giovanni Battista Tiepolo. 1696-1770, Köln 1998, S. 126-135.

[3] Vgl. Samuel Beckett, Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929 -1940, Frankfurt am Main 2013, S. 527 und Anm. 4, S.530.

[4] Für die Ikonografie der Flucht beziehe ich mich im Folgenden vor allem auf Schoole Mostafawy, Die Flucht nach Ägypten. Ein Beitrag zur Ikonographie des biblischen Reisegeschehens in der italienischen Kunst von den Anfängen bis ins Cinquecento, Frankfurt am Main 1998.

[5] Ebd. S. 233f.

[6] Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980, S. 62.

[7] Zit. n. Max Imdahl, „Narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos“, in: ders., Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften, Bd.2, Frankfurt am Main 1996, S. 180- 209, hier S. 206.

[8] Vgl. auch Karl Clausberg, Die Wiener Genesis. Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte, Frankfurt am Main 1984.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt am Main 2008; Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1966.

[11] Roberto Calasso, Das Rosa Tiepolos, München 2010, S. 300.

[12] Vgl. zu diesem Thema insb. Calasso, ebd.

[13] Svetlana Alpers, Michael Baxandall, Tiepolo und die Intelligenz der Malerei, Berlin 1996, S. 70.

[14] Vgl. ebd.

[15] Vgl. ebd. S. 51.

[16] Calasso (wie Anm. 11), S. 301.

[17] Vgl. Robert Filliou, Ausst.-Katalog Sprengel-Museum Hannover, Musée d’art Moderne de la Ville de Paris – ARC 2, Paris, Kunsthalle Bern 19984

[18] Vgl. Christofer Conrad (Bearb.), Giovanni Domenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten, Ausst.-Katalog Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, Stuttgart 1999.

[19] Vgl. Felix Reuße, „’Die Flucht nach Ägypten’ des Giandomenico Tiepolo im Licht der Freiburger Probedrucke“, in: Giandomenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten. Radierungen, Ausst.-Katalog Augustinermuseum Freiburg, 2007, S. 9 – 79.

[20] Vgl. Hein-Th. Schulze Altcappenberg, Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770). Zeichnungen & Radierungen im Berliner Kupferstichkabinett, Ausst.-Katalog Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin 1996.

[21] Vgl. Harald Keller (Hg.), Gian Domenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten, Dortmund 1986.

[22] Christofer Conrad nennt dagegen die Reihenfolge der Grafiken nicht bindend und betont zu Recht, dass eine Handlungschronologie den Künstler weniger interessiert habe. Vgl., Conrad (wie Anm. 18), S. 17.

[23] Vgl. ebd., S.12.

[24] Reuße (wie Anm. 19), S. 18/19.

[25] Zum Loop vgl. Michael Glasmeier, Loop. Zur Geschichte und Theorie der Endlosschleife am Beispiel Rodney Graham, Köln 2002.

[26] Vgl. Helene Trottmann, „Giovanni Domenico Tiepolos Radierungsfolge ‚Die Flucht nach Ägypten“, in: Peter O. Krückmann (Hg.), Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg, Ausst.-Katalog Residenz Würzburg, München New York 1996, S. 109 – 113.

[27] Vgl. vor allem Conrad (wie Anm. 18) und Reuße (wie Anm.19).

[28] Vgl. Thomas Jäger, Die Bilderzählung. Narrative Strukturen in Zyklen des 18. und 19. Jahrhunderts – von Tiepolo und Goya bis Rethel, Petersberg 1998.

[29] Vgl. u.a. Alexander Roob, Theorie des Bildromans, Köln 1997.

[30] Vgl. insb. Roland Kanz, Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München, Berlin  2002; Ekkehard Mai (Hg.), Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya, Mailand 1996; Ekkehard Mai, Joachim Rees (Hg.), Kunstform Capriccio. Von der Groteske zur Spieltheorie der Moderne, Köln 1998.

[31] Norbert Miller, „Kindertraum und Künstler-Mythos. Das Leben des Punchinello, erzählt von Giambattista und Giandomenico Tiepolo“, in: Martin Gaier, Bernd Nicolai, Tristan Weddingen (Hg.), Der Unbestechliche Blick. Festschrift zu Ehren von Wolfgang Wolters, Trier 2005, S. 1-14, hier S. 5.

[32] Vgl. für diese Zusammenhänge insb. Schulze Altcappenberg (wie Anm. 20).

[33]   Frank Büttner, „Tiepolo und die suversive Kraft des Capriccios“, in: Mai (Hg.), Das Capriccio als Kunstprinzip, (wie Anm.29), S. 157-169, hier S.165.

[34] ebd.

[35] Vgl. u. Albert Ilg, Über den kunsthistorischen Werth der Hypnerotomachia Poliphili. Ein Beitrag zur Kunstliteratur der Renaissance, Wien 1972; Reinhard Krüger, „Wanderungen auf der Nekropole der an Liebe Verstorbenen: Memoria als intermediale Inszenierung in Francesco Colonnas ‚ Hypnerotomachia Poliphili’ (1499)“, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Heft 1, 2004, S.5-28.

[36] Ähnlich Betrachtungsformen gelten auch für die Rätselobjekte einer höfischen Kunst- und Wunderkammer, vgl. hierzu auch Michael Glasmeier, „Kuratoren des Kuriosen: Arensberg – Duchamp, Rudolf II. – Arcimboldo, Francke – Gründler. In: Nike Bätzner (Hg.): Assoziationsraum Wunderkammer. Zeitgenössische Künste zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 2015, S.  55-68.

[37] Vgl. Roob (wie Anm.29).

[38] Miller (wie Anm. 31), S.6.

[39] Vgl. u.a. auch für die Kunst Helmut Draxler (Hg.), Shandyismus. Autorschaft als Genre, Ausst.-Katalog, Secession Wien, Kunsthaus Dresden, 2007.

[40] Vgl. insb. die herausragende Publikation Tiepolo. Ironia e comico, Ausst.-Katalog Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2005, Ab. 29.

Es handelt sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Michael Glasmeier in der vom Melton Prior Institut mit organisierten Konferenz “Der Illustrations-Impuls” hielt, die am 25.11.2014 in der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart stattfand.

Bildnachweise:

1)    Giambattista Tiepolo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, ca. 1767-70, Öl auf Leinwand, 55,5 x 41,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart.
In: Keith Christiansen, Giambattista Tiepolo, New York, Mailand 1996, Abb. 57b.
2)    Giambattista Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, ca.1767-70, Öl auf Leinwand, 57 x 44 cm, Museu Nacional de Arte Antiga, Lissabon.
In: Keith Christiansen, Giambattista Tiepolo, New York, Mailand 1996, Abb. 57b
3)    Giambattista Tiepolo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, ca.1767-70, Öl auf Leinwand, 60 x 45 cm, Sammlung Torre und Tasso, Bellagio
in: Keith Christiansen, Giambattista Tiepolo, New York, Mailand 1996, Abb. 57d.
4)    Giambattista Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, ca. 1767-70, Öl auf Leinwand, 59,4 x 40,8 cm, Privatsammlung New York.
In: Keith Christiansen, Giambattista Tiepolo, New York, Mailand 1996, Abb. 57d.
5)    Giotto di Bondone, Flucht nach Ägypten, 1302-1305, Fresko, 200 x 185 cm, Capella degli Scrovegni, Padua.
In: Anne Mueller von der Haegen, Giotto di Bondone, Köln 1998, Abb. 79.
6)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, 1750-53, 27 Radierungen, ca. 20 x 27 cm: Frontispiz.
Alle Abbildungen dieser Serie in: Giandomenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten. Radierungen, Ausst.-Katalog Augustinermuseum Freiburg, 2007.
7)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Widmung.
8)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Joseph kündigt Maria den kommenden Aufbruch an.
9)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Der Aufbruch zur Reise.
10)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Maria, auf dem Esel sitzend, bittet Joseph, ihr das Kind zu reichen – Eierverkäuferin.
11)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie passiert das Stadttor.
12)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Ankunft der Heiligen Familie an einem Stadttor.
13)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie zieht an der Stadtmauer vorbei, darüber Gottvater.
14)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie erreicht den Fluss.
15)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie auf dem Weg zum Kahn.
16)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie besteigt den Kahn, assistiert von zwei Engeln.
17)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Ein Engel setzt die Heilige Familie über.
18)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie verlässt den Kahn.
19)     Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,5 x 17,8, Magier mit einem Soldaten und anderen Figuren zwischen einem Obeliskenstumpf und einem brennenden Opferaltar mit Schädel und Knochen.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770). Zeichnungen & Radierungen im Berliner Kupferstichkabinett, Ausst.-Katalog Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin 1996, Abb. 83.
20)     Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,3 x 18 cm, Ein Magier und sein Gefolge beobachten den Schlangentanz vor einem Brandopferaltar mit antikem Relief, einer Eule und Pansherme.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, a.a.O., Abb.88.
21)    Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,6 x 17,6 cm, Titelblatt.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, a.a.O., Abb. 77.
22)     Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Die Heilige Familie beim Abstieg von einer Anhöhe.
23)     Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,6 x 17,8 cm, Sitzende Frau mit Kind, umgeben von einem Hund, einem Esel, einem Knaben und Geräten.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, a.a.O., Abb.88
24)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Joseph trägt das Kind, flankiert von Maria und einem Engel.
25)    Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 22,7 x 17,5 cm., Jüngling zwischen dem Magier mit Affen und einem Ochsen.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, a.a.O., Abb. 94
26)    Giandomenico Tiepolo, Die Flucht nach Ägypten, Beim Einzug nach Ägypten zerspringt ein Götzenbild.
27)     Giambattista Tiepolo, Scherzi di Fantasia, um 1743-50, Radierung, 23,4 x 18,1 cm., Die Entdeckung des Grabes von Pulcinella.
In: Hein-Th. Schulze Altcappenberg, a.a.O., Abb.93
28)    Giambattista Tiepolo, Drei Pulcinelle, Zeichnung, 30 x 24,5 cm.
In: Tiepolo. Ironia e comico, Ausst.-Katalog Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2005, Abb.29
29)    Georg Friedrich Schmidt nach Giambattista Tiepolo, Pulcinelle kochen Polenta, Grafik, 21,2 x 22,3.
In: Tiepolo. Ironia e comico, Ausst.-Katalog Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2005, Abb. 34.
30) Giamdomenico Tiepolo, Das Hängen, Zeichnung, 29,6 x 41,5.
In: Tiepolo. Ironia e comico, Ausst.-Katalog Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2005, Abb. 146.
31) Giandomenico Tiepolo, Pulcinella auf der Schaukel mit Gefährten, 1797, Deckenfresko, Ca’Rezzonico, Venedig.
In: Ca’Rezzonico. Museum of 18th-Century, Ausstellungsführer Venedig 2012, S.151

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