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Van Goghs Favorites IV: Paul Renouard, der Zola der Zeichnung

„Da ist Leben in jedem Bleistiftstrich.“
Brief von Vincent van Gogh an Theo van Gogh
Nuenen, 4. oder 5. Mai 1885

„Diese Höhe hat Renouard dadurch erreicht, indem er von Anfang an nach der Natur gearbeitet hat, ohne andre zu imitieren, und doch zieht er, auch was die Technik anbelangt, mit den ganz Cleveren gleich, obwohl er von Anfang an seine eigne Art gehabt hat; wenn ich das alles bedenke, so erscheint er mir erneut ein Beleg dafür zu sein, dass man von Jahr zu Jahr besser wird, wenn man sich nur wirklich an die Natur hält.“
Brief von Vincent van Gogh an Theo van Gogh
Nuenen, ca. 24. Januar 1885

Die Vergleiche, die van Gogh in seinen Briefen anstellte, um seinem Bruder Theo und seinem Künstlerfreund van Rappard die Kunst des von ihm bewunderten Illustriertenzeichners Paul Renouard nahe zu bringen, greifen nicht wirklich. Sowohl die skulptural- karikaturesken Manieren eines Honoré Daumier oder Paul Garvani, als auch der rustikale künstlerische Zugriff eines Jean-François Millet, die er dazu heranzog, verfehlen ihr Ziel, das Charakteristische von Renouards Zeichnungen zu beschreiben. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sich ihm in Paris durch seine Bekanntschaft mit den Zirkeln impressionistischer Künstler die Möglichkeiten eröffnen würden zu einer präziseren Einordnung dieser im Feld der Reportagezeichung ganz singulären Position. Je mehr dann allerdings van Goghs Ringen um den farblichen Ausdruck, die peinture in den Vordergrund rückte, desto mehr geriet auch seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Illustriertengrafik ins Hintertreffen. Die Arbeit des acht Jahre älteren Künstlers, der mit einer ganz ähnlichen künstlerischen Synthese befasst war wie er selbst, verlor er so allmählich aus dem Blickfeld.

Paul Renouard ist neben seinem gleichaltrigen englischen Kollegen Melton Prior der produktivste und meist publizierte Reportagezeichner gewesen. Beide waren Vertreter einer zweiten Generation von ‚special artist’, deren Arbeit in der Hochphase graphischer Berichterstattung einsetzte, als das expandierende Illustriertenwesen mit immer ausgefeilteren und effektiveren Reproduktionsverfahren den stetig wachsenden Bilderhunger des Publikums zu sättigen suchte. Ihre Tätigkeiten erstreckten sich bis in die ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts, als gezeichnete Dokumentation nur noch vereinzelt Inseln bildete in einem Meer von verschwommenen fotografischen Abbildungen.

Diese Zeichner waren nicht mehr wie ihre Vorgänger mit der mühsamen Überwindung spätbarocker und klassizistischer Schemata befasst. Sie waren zu wandelnden Augen geworden, deren unablässige Bewegungen durch die modernisierten Transportmöglichkeiten beschleunigt wurden. Während der Brite Melton Prior als Illustrator der kolonialen Expansion des Empire von einem exotischen Schlachtfeld zum nächsten taumelte, graste sein französischer Kollege als Vertreter einer von extremen sozialen Dissonanzen durchzogenen Dritten Republik nahezu alle vorstellbaren Regionen des zivilen Alltags ab.
Renouard hat bei seinem Tod im Jahr 1924 ein riesiges Werk hinterlassen, das neben seinen Malereien aus elf umfangreichen druckgrafischen Portfolios, mehreren illustrierten Büchern sowie einer unübersehbaren Anzahl von Arbeiten für französische, britische und amerikanische Illustrierte bestand. In ihrer Gesamtheit stellen seine Zeichnungsreportagen, die allesamt Meisterwerke dieses Genres sind, einen mit mechanischer Präzision ausgeleuchteten Sozialspiegel des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts dar, der in seiner enzyklopädischen Breite wie ein graphisches Pendant zu Zolas Rougon-Macquart-Zyklus erscheint.

Joris Karl Huysmans, der selbst einer der bekanntesten Vertreter des literarischen Naturalismus war und der sich neben seinem Mentor Emile Zola auch als einer der tonangebenden Kunstkritiker der Zeit hervortat, ermahnte Anfang der achtziger Jahre die bildenden Künstler, allen voran die von ihm favorisierten Impressionisten, es gäbe noch viel zu tun: „Das Studium der Gesamtheit des modernen Lebens steht noch aus; nur wenige ihrer zahlreichen Facetten sind bisher registriert und aufgezeichnet worden. Alles muss gemacht werden: Die offiziellen Banketts, die Bälle, die vielen Aspekte des gewöhnlichen Lebens, das Leben der Handwerker und der Kleinbürger, die Läden, die Märkte, die Restaurants, die Cafés, …. alle Arten von Menschen, egal welcher Klasse sie angehören, egal welche Funktion sie ausfüllen, zuhause, in den Krankenhäusern, auf den Plätzen, in den Strassen der Elendsviertel und auf den breiten Boulevards.“ (1)

Der einzige, der diesem Appell wirklich gefolgt ist, war der von Huysmans hochgeschätzte Paul Renouard. Die Verwirklichung eines so ausgreifenden Dokumentationsprojekts konnte ihm im genuinen Medium der Illustriertenreportage allerdings nur gelingen, indem er seine Reputation als Künstler aufs Spiel setzte. Obgleich die Avantgarde der Zeit mit ihrer zentralen Forderung nach actualité enorm viel vom Vorbild der Pressegrafik profitierte, blickte man sowohl von Künstler- als auch von Kritikerseite mit zunehmender Abschätzigkeit und mitunter offener Verachtung auf dieses Feld angewandter künstlerischer Praxis herab. Erst die Bewegungen der späten achtziger und neunziger Jahre, die Nabis und die Künstler des Art nouveau waren bereit, mit einem veränderten Verständnis von der gesellschaftlichen Funktion von Kunst die Barrieren zwischen ‚high’ und ‚low’ zu übertreten. Renouard unternahm also einen heiklen Balanceakt, indem er als arrivierter Salonkünstler „solche Dinge“ zu produzieren begann, die – wie van Gogh wiederholt seine bornierte Kollegenschaft zu zitieren pflegte – „ man  auf dem Lesetisch des Südholländischen Kaffeehauses finden kann.“ Obgleich er gegen Ende seines Lebens mit einigen Preisen und Medaillen versehen wurde, blieb seinem Werk von einer nach wie vor streng nach überkommenen Gattungshierarchien wertenden Kunstgeschichtsschreibung bislang jede Anerkennung verwehrt.

Seine künstlerische Ausbildung hatte er bei dem Historienmaler Isidore Pils erfahren. Pils war von dem dominanten Stellenwert, den die reportierende Skizze allmählich in seinem eigenen Werk eingenommen hatte, in der Lage gewesen, seinen Schülern eine entsprechende Prägung mit auf den Weg zu geben.(2) Für die Heranbildung einer künstlerischen Reportage in Frankreich scheint seiner Kunst eine vergleichbare katalysatorische Funktion zugekommen zu sein, wie der Malerei eines Menzel in Deutschland.

Seit 1877 war Renouard mit seinen Gemälden auf der jährlichen großen Salonausstellung vertreten. Nach Pierre-Auguste Renoirs Auszug hatte er ab 1884 dessen Atelier in Paris übernehmen können. Beider Kunst wurde von der Kritik nicht selten miteinander in Beziehung gebracht, denn mit dem zufälligen Gleichklang der Namen verband die beiden auch eine künstlerische Gemeinsamkeit in dem flirrenden Duktus ihrer Malereien und Zeichnungen.

Erste Veröffentlichungen in L’Illustration, der führenden französischen Illustrierten der Zeit, hoben bereits auf den Kern seiner künstlerischen Konzeption ab, auf die obsessive Erfassung des Instantanen, des schnappschussartigen Moments. Es handelte sich um Sequenzen von Bewegungsstudien in der Art der Phasenbilder, wie sie in einem Praxinoskop der Zeit Verwendung fanden. Die Weise, wie sie ins Blatt gesetzt waren, verriet die Kenntnis der Manga von Hokusai. In seinem magnum opus, dem aus 204 Radierungen bestehenden Mappenwerk „Mouvements; Gestes; Expressions“ das 1905 erschien, griff Renouard auf dem Höhepunkt seiner Karriere in einer Vielzahl von Blättern auf dieses anfängliche Verfahren einer kaleidoskopartigen Anordnung von einzelnen Bewegungsstudien zurück.

Das Prinzip der räumlichen Klitterung, der Zusammenfügung scheinbar kohärenter Bildansichten aus heterogensten Fragmenten, durchzieht sein gesamtes Werk. Er scheint in dieser Beziehung viel von dem Vorbild des elf Jahre älteren Edgar Degas profitiert zu haben, der bei der Entwicklung seiner Montageverfahren wiederum selbst auf Vorbilder in der Illustriertengrafik zurückgegriffen hatte und diese radikalisiert hatte. Auch motivisch stand er ihm anfänglich nahe. So beschäftigte er sich, ebenso wie Degas, vor allem mit Orten und Situationen, in denen Intimität und Öffentlichkeit subtil ineinander greifen. Beide arbeiteten beispielsweise nahezu zeitgleich an dem Thema des beobachteten Bildbetrachters im musealen Raum. Renouards erstes illustriertes Buch „Les pensionnaires du Louvre“ war 1880 erschienen, zu einer Zeit als Degas gerade an einer Reihe von Radierungen arbeitete, die seine Bekannte, die Künstlerin Mary Cassatt bei der Bildbetrachtung im Louvre zeigen. In dem darauf folgenden Mappenwerk „ Le Nouvel Opéra“, das 1881 herauskam, konzentriert sich Renouard dann vor allem auf beiläufige Situationen aus dem Bereich hinter den Kulissen, ein Thema, mit dem Degas einige Jahre zuvor in der Malerei reüssiert hatte.

Schon bald jedoch überschritt er die Begrenzungen der Wirklichkeitsausschnitte, auf die sich großbürgerliche Flaneure wie Edgar Degas, wie James Tissot oder Gustave Caillebotte konzentriert hatten, und überließ sich statt dessen dem viel weiteren Spektrum an Themen, das die Herausforderungen des bildjournalistischen Tagesgeschäfts boten. Aufregende Rededuelle bei Parlament und bei Gericht hielt er mit der gleichen retinalen Akribie fest wie die alltäglichen Abläufe in einem Verwaltungsbetrieb oder die Verrichtungen auf einer Großbaustelle; die glamouröse Welt der Repräsentation ebenso wie schwer zugängliche Orte staatlicher Bestrafung und Verfolgung. Sein grafischer Bericht über die Misere kollektiver Arbeitslosigkeit, der 1884 zur Zeit des zweiten Weberaufstands in Lyon entstanden war, hatten Van Gogh, der seine Grafiken über Jahre hinweg gesammelt hatte, besonders beeindruckt.

Ende der achtziger Jahre wurde er vom Londoner Graphic unter Vertrag genommen. Dessen Verleger William Luson Thomas, engagierter Förderer sozialkritischer Kunst und Advokat einer künstlerisch ausdrucksstarken Pressegrafik, hatte sich noch kurz zuvor, im September 1888, in einem Beitrag für die Universal Review über den Niedergang der Zeichenkunst unter dem Diktat der impressionistischen Malerei beklagt. Nachdem sämtliche Stil prägenden Künstler seiner Illustrierten wie Hubert Herkomer, Luke Fildes oder Frank Holl in das weitaus respektablere und lukrativere Geschäft der viktorianischen Porträt- und Genremalerei abgedriftet waren, sah er sich mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert, fähigen künstlerischen Nachwuchs zu finden.

 

Renouards künstlerische Konzeption harmonierte wunderbar mit den Auffassungen und Intentionen von Luson Thomas und binnen kurzem avancierte er zum Starzeichner des Graphic. Er veröffentliche zwar weiterhin in französischen Illustrierten, verlagerte seinen Arbeitschwerpunkt jedoch zunehmend nach London. Zur Folge hatte dies, dass ihn beispielsweise ein Emile Bayard in seinem 1898 erschienenen Überblickswerk zur französischen Illustrationskunst (3) komplett ignorieren konnte. Den Zenit seiner Karriere als ‚special artist’ markieren seine Zeichnungen vom Dreyfus-Prozess. Nahezu die gesamte Elite der internationalen Ereignisgrafik war bei diesem zentralen Medienspektakel zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts zugegen, aber es waren vor allem die äußerst prägnanten Arbeiten Renouards gewesen, die dann das mediale Nachbild dominiert hatten.

In ihrem sehr informativen Aufsatz über den Einfluss von Renouards Sozialreportagen auf die Kunst van Goghs (4) plädierte die einflussreiche amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin bereits vor nahezu dreißig Jahren für eine Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer künstlerischen Leistungen: „ This study may also suggest that we rethink the actual position of van Gogh vis-à-vis journalistic illustrators like Renouard. Instead of seeing van Gogh as the important creative artist and the illustrators simply as aesthetically negligible minor sources of his inspiration, perhaps it would be more realistic to think of them all as fellow art workers, interested in the same subjects, moved by similar humanitarian impulses (…), and interested in developing similar naturalistic and expressive techniques.“

Der Appell ist bislang nahezu folgenlos geblieben. Noch immer steht eine grundlegende Revision der Beurteilung der künstlerischen Leistungen der Illustrationsgrafik des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts aus. Im Falle Renouards, auf dessen avantgardistische Sonderstellung im Feld der Pressegrafik Nochlin  nicht eingeht, wäre es gar angezeigt, ihm eine herausragende Position in der Liga impressionistisch-naturalistisch orientierter Künstler einzuräumen, eine Position, die der außerordentlichen Konsequenz und Brillanz seines Werks gerecht wird.

1) Zit. n. Gabriel P. Weisberg, The Realist Tradition: Critical Theory and the Evolution of Social Themes, in: The Realist Tradition, ed. Weisberg, Cleveland 1980, S: 4.
2) Vgl. MePri- Feature von Christoph Kappler: Isidore Pils: Historienmaler und „Realist-Reporter“
3) Emile Bayard, L´Illustration et Les Illustrateurs, Paris 1898
4) Linda Nochlin, Van Gogh, Renouard, and the Weaver´s Crisis in Lyons, in: Studies in Honor of H.W. Janson, 1981. Neuveröffentlichung in: L. Nochlin, The Politics of Vision. Essays of Nineteenth – Century Art and Society, New York 1989

 

 

Paul Renouard in the MePri Collection:

Louis Leroy, Paul Renouard (Illu.), Les Pensionnaires du Louvre, Paris / London 1880
Paul Renouard, Rome pendant la Semaine Sainte, Paris 1891
Harold Cox, Parliamentary Pictures and Personalities, London 1893
Cherbourg – Paris -Chalons, 5 – 9 octobre 1896, Paris ? St. Petersbourg 1896
Dreyfus the Martyr, recorded by pen and pencil, special edition of The Graphic, London 1899
Antony Aubin, Affaire Steinheil. Croquis d´Audience par P. Renouard, Sabattier, Georges Scott, Paris 1909
Enid Rose, First Studies in Dramatic Art. (including reproductions from etchings by Paul Renouard ), London 1926
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Portfolio with 34 individual sheets from The Graphic
Works in L´Illustration, Le Monde illustré, Tour du Monde, Revue Illustrée, The Illustrated London News, Harpers Weekly
Selection of five autographed etchings from the portfolio ?Mouvements, Gestes Expressions?, 1905
Three drawings: Portrait, Scène d’école de Marine , Les Hommes Jurant

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Joseph Pennell, Pendrawing and Pendraughtsmen, London – New York 1889
Joseph Pennell, Die moderne Illustration, Leipzig, 1895
Joseph Pennell, The Graphic Arts (The Scammon Lectures), Chicago 1920
Ronald Pickvance, English influences on Vincent van Gogh , London 1974
Gabriel P. Weisberg, The Realist Tradition: French Painting and Drawing, 1830 – 1900, Cleveland 1980
Paul Hogarth, The Artist as Reporter, London 1986
Norman L.Kleeblatt, The Dreyfus Affair. Art, Truth & Justice, Los Angeles, 1987
Linda Nochlin, The Politics of Vision: Essays on nineteenth-century art and society, New York 1989

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