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Der illuminierte Mzona-Mythos des Pierre Richard von Kédange (1802-1879). Teil I

Vom Elsass nach Lothringen / Die Recherche / Das Buch

2010 tauchten bei einem Straßburger Buchhändler drei grafische Grimoires aus der nord-lothringischen Provinz auf, deren Eigenart und graphische Intensität in Erstaunen versetzte. Als Autor wies sich ein Richard aus Kédange aus, heute Kédange-sur-Canner, einem Ort unweit der Grenze zum Saarland und ca. 30 km nördlich der lothringischen Hauptstadt Metz im heutigen Département Moselle. Einige wenige Zeitangaben, die sich in diesen Büchern finden, legen eine Entstehungszeit gegen Mitte des 19. Jahrhunderts nahe, eine Vermutung, die durch Recherchen und materialtechnische Untersuchungen bestärkt wurde.

Der Text bestand aus einem delirierenden Mix sigillenmagischer und astrologischer Zeichen, aus weiheliturgischem Vokabular – und einem klangvollem Zaubersprech, der sich zu großen Teilen aus einem französisch-moselfränkischen Kauderwelsch und lateinischen Einschüben zusammensetzt. Die figürlichen Darstellungen, die heute teils hieratisch, teils comicartig wirken, scheinen äthiopischen Zauberrollen oder frühen koptischen Buchmalereien entsprungen. Ein Opus, das so archaisch, so rustikal und esoterisch so grotesk erscheint, als handle es sich um eine Materialisierung jenes geheimen Buchs, das Frau Hahn in Joyce´s „Finnegans Wake“ aus einem Misthaufen zerrt.

Und Hähne gab es reichlich zu sehen. Sie schienen neben den lemurenartigen Geistwesen, den komischen Heiligen, der Gottesmutter und dem Gekreuzigten Hauptrollen in einem kreisenden endzeitlichen Spektakel zu spielen. Zumeist hielten sie eine große Pistole in den Krallen, manchmal auch zwei.  Sie schienen lieb und harmlos, Kinderbuchhähne, aber wenn sie schossen, trafen sie offenbar gleich dreimal ins Schwarze. Wären diese Zauberbücher zur Zeit ihrer Entstehung publik geworden, Breton hätten ihnen sicher einen Ehrenplatz in seiner Anthologie des schwarzen Humors eingeräumt. Kein Wunder also, dass selbst Experten anfangs an einen Fake glaubten.

Die drei Bücher sind, sowohl was ihr Format als auch was ihre Konzeption betrifft, sehr unterschiedlich. Der erste im Westentaschenformat von 136 x 83 mm in Leder gebundene Band besteht im Kern aus einer Druckfassung des „Enchiridion du Pape Léon“, eines Grimoire, das 1800 erschienen war. Wie etliche andere Zauberbücher der Zeit war es durch fahrende Händler, sogenannte Kolporteure, auch auf dem Land vertrieben worden.  Richard hat sich die pseudohistorische Publikation komplett zu eigen gemacht, indem er die meisten der 120 Druckseiten mit brauner Tusche überzeichnete bzw. überschrieb und hinten und vorne jeweils sechzig Seiten mit eigenen Inhalten anfügte.  Während dieses Opus somit eher den Eindruck eines Übungs- und Musterbuchs machte, kommen die beiden anderen Bände, die deutlich größer sind und vorwiegend farbige Illustrationen enthalten, als eigenständigere Werke daher. In ihre Prachtentfaltung erinnern die Alben an mittelalterliche Illuminationen.[1] Mit insgesamt 744 bezeichneten Seiten handelt es sich um ein sehr reichhaltiges Konvolut, wobei die Sprünge in der grafischen Entwicklung vermuten lassen, dass es sich nur um Ausschnitte aus einer weitaus umfangreicheren Produktion handelt.[2]

Bevor die drei Werke in den Straßburger Buchhandel gelangten, hatten sie bereits zwei Jahrzehnte mehr oder weniger unbeachtet in einem lothringischen Antiquariat gelegen. Dass sich schlussendlich das Ehepaar François und Mireille Pétry ihrer annahm, er ein weithin bekannter Archäologe und langjähriger Landeskonservator, sie eine studierte Bibliothekarin und hervorragende Literaturkennerin, kann man nur als glückliche Fügung bezeichnen.

Vom Elsass nach Lothringen

Die Pétrys hatten sich zuvor viele Jahre um die Sicherstellung und Freilegung eines vergleichbar obskuren Werks gekümmert. In mühevoller Kleinarbeit war es ihnen gelungen, den vielteiligen Bilderzyklus „Salon der Träume“ (Le Salon des Rêves,1939-44) des vergessenen elsässischen Malers Joseph Steib (1898-1966) zu recherchieren und teilweise wiederherzustellen.[3] Steib hatte sich in dieser Serie nicht nur auf eine phantastisch-surreale, sondern in den Bezügen auf Motive der regionalen Andachtskunst letztlich auch exorzistische und schutzmagische Weise mit dem Trauma der Hitler-Diktatur auseinandergesetzt.  In den Katalogbüchern sprach François Pétry von einer „schwarzen Passion“. Nach Steibs Tod war dieses einzigartige Dokument eines künstlerischen Bannzaubers gegen die Schrecken der Okkupation aufgelöst und in alle Winde zerstreut worden.

Über den Maler selbst war wenig bekannt. Gerüchte, wonach er als Straßenkehrer gearbeitet haben soll, schienen vor allem die Schublade einer naiven Kunst bedienen zu wollen. Wie die Recherchen der Pétrys zu Tage brachten, verfügte dieser Ensor des Elsass jedoch über eine wenn auch nur kurzzeitige Ausbildung an einer angesehenen Kunstschule. Seinen künstlerischen Widerstand hatte er ganz unromantisch als Angestellter der örtlichen Wasserwerke betrieben. Gewirkt hatte er in Mulhouse und Umgebung, im äußersten Süden eines Kulturraums, der durch Jahrhunderte währende Grenzkonflikte aufgerieben und traumatisiert war.

François Pétry kennt die Region wie kein anderer. Er hat sich durch viele ihrer Zivilisationsschichten gegraben. Darüber hinaus sondiert er unablässig das weite Feld der sogenannten Ephemera, anonyme Skizzenbücher, Kalender, Tagebücher, Pressegrafiken und Fotoserien, Materialien unterschiedlichster Art und Provenienz, die sich in seinem Magazin bis auf beachtliche Höhen stapeln. Was sich mit diesem neuen Fund im Straßburger Antiquariatshandel abzeichnete, das schien allerdings ganz und gar nicht ephemer zu sein, nach Steib eine weitere kardinale Grabungsstelle, diesmal im regionalen Norden.

Die Recherche

Während sich die Unternehmung „Le Salon des Rêves“ auf eine Vielzahl von Dokumenten und Zeitzeugenberichten stützen konnte, die einen allmählichen Einblick in Entstehungsumstände dieses Bilderzyklus und ein Scharfstellen von Steibs Künstlerpersönlichkeit erlaubte, gestalteten sich die Nachforschungen zu Richard von Kédange ungleich schwieriger. Da zentrale Akten des Départements Moselle aus der Zeit vor 1850 im 2. Weltkrieg vernichtet wurden, fehlen ganz wesentliche Bausteine seiner Vita. Das Porträt des Magiers von Kédange muss somit bis auf weiteres fragmentarisch und schemenhaft bleiben. Erstaunlich ist allerdings, was die Pétrys trotz dieser Hürden ans Licht brachten.

Es handelte sich, wie aus lokalen Unterlagen hervorgeht, um einen gewissen Pierre Richard, der 1802 in Kédange-sur-Canner als drittes Kind einer begüterten Bauernfamilie zur Welt kam. Nach dem frühen Tod des Vaters war der Rest der Familie um das Jahr 1820 ins nahe gelegene Dalstein umgezogen, den Geburtsort der Mutter. Ein einschneidendes Erlebnis war vermutlich die Bekanntschaft mit einem Jean Heitz, der in Dalstein seit 1835 nachgewiesen ist. Das Exlibris des „Enchiridion du Pape Léon“, das Pierre Richard überarbeitet hatte und das ihm wohl als Exerzitienbuch diente, weist ihn als Vorbesitzer aus.  Möglicherweise fungierte Heitz für den jungen Zauberaspiranten als eine Art Lehrmeister in Sachen Ritualmagie und christliche Kabbala. Es ist auch denkbar, dass Richard für ihn eine Zeitlang als ein Medium tätig war. Von dem englischen Magier und Astrologen John Dee und seinem Gehilfen Edward Kelley ist eine solche Channeling-Kooperation zum Empfang übersinnlicher Botschaften und zur magischen Kartierung der Engelwelt überliefert. Das einflussreiche „Buch der wahren Praktik in der göttlichen Magie“ des Pseudo-Abraham von Worms empfahl als Medium ein Kind zu verwenden, wegen der erhöhten Sensitivität für die Anwesenheit von Engeln.

Zu den wenigen biografischen Anhaltspunkten über die Dalsteiner Zeit zählt ein Kaufvertrag, in dem der damals 31jährige Pierre als Miteigentümer einer Immobilie aufgeführt wird. In einem Eintrag in den Katastermatrizen von 1841 wird er als “Rentier” bezeichnet. Aus mehreren Dokumenten geht hervor, dass dieser Besitz allerdings bereits drei Jahre später, nach dem Tod der Mutter, in die Hände eines älteren Halbbruders übergegangen war. War er entmündigt worden? Gegen Ende der 1840er Jahre verlieren sich die Spuren des Autors merkwürdiger Zauberbücher in Dalstein. Auf konkrete Indizien über seinen weiteren Lebensweg stießen die Pétrys erst wieder in den Akten des kommunalen Asyls in Gorze, nahe Metz, in dem seit 1870 neben Bettlern und Landstreichern auch sogenannte Geisteskranke interniert waren. Um diese Zeit hatte man einen Pierre Richard aus Chémery, einem Nachbarort von Dalstein, dorthin überführt.

Eines der beiden illuminierten Album enthält zweimal die Jahresangabe 1867. Die Pétrys vermuten daher, dass sie in Chémery entstanden sind, wo Richard wahrscheinlich mehr als zwei Jahrzehnte verbrachte. Hatte der Halbbruder den Umzug organisiert und eine Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einer informellen karitativen Einrichtung arrangiert? Seltsam nur, dass er in dieser langen Zeit dort keinerlei administrative Spuren hinterlassen hat.

Zu den Besonderheiten des Ortes zählte eine traditionsreiche marianische “Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis”, in die er möglicherweise involviert war. Sie verfügte über weitreichende überregionale Kontakte, aus deren Reihen jährlich ein König gewählt wurde, ein Amt, das den Majestäten der Schützengesellschaften verwandt war. Einige kuriose Motive in seinen Zauberbüchern – federbekränzte Hüte, Umhängeskapuliers und Zielscheiben – könnten auf die pittoresken Bräuche dieser marianischen Verbindung zurückgehen.  Im Januar 1879 verstarb Richard von Kédange nach fast einem Jahrzehnt der Internierung in der zentralen Anstalt Gorze.

Das Buch

Dass es den Pétrys gelang, die äußerst verdienstvolle und engagierte Verlegerin Pierrette Turlais mit ins Boot zu holen, kann als eine weitere glückliche Fügung im Rahmen des Nachlebens der lothringischen Zauberbücher gewertet werden. Das 2020 erschienene Opus „Pierre Richard (1802-1879): Grimoires illuminés“ ist ein bibliophiles Meisterwerk geworden,  das seinem solitären Gegenstand in vielerlei Hinsicht gerecht wird, sowohl was die preisgekrönte Gestaltung und die Auswahl und Qualität der Abbildungen, als auch was die sorgfältige Redaktion der zahlreichen Beiträge betrifft. Umso bedauerlicher, dass dieser brillanten Publikation, die Richards Werk in Frankreich bereits einige Museumstüren geöffnet hat, nicht nur wegen der limitierten Auflage und des hohen Preises, sondern auch aufgrund der Einsprachigkeit nur eine sehr eingeschränkte Reichweite beschert ist. Eine zweisprachige Ausgabe, die das Konvolut der Grimoires vollständig zugänglich macht, wäre ein unbedingtes Desiderat und nichts weniger auch als eine Verbeugung vor der verbindenden Bilingualität der Originale.

Turlais‘ Kleinverlag Artulis, der sich laut Ankündigung auf Erstveröffentlichungen von „Schriften des Aufbegehrens, der Revolte, des Widerstands und des Überlebens“ spezialisiert, hatte sich zuvor eines anderen herausragenden Werks mit kryptografischen Aspekten angenommen, des Corpus der vierzehn erhaltenen Teufelsinsel-Tagebuchhefte des verbannten elsässischen Hauptmanns Alfred Dreyfus. Neben allerlei notierten Alltäglichkeiten gibt dieses Konvolut in den Randkritzeleien auch Aufschluss über die Entwicklung einer faszinierenden Psycho-Ornamentik.[4]

Eine Engführung zwischen diesen Arabesken eines jüdischen vermeintlichen Volksverräters, der auf eine diabolische Insel vertrieben war, und Richards Volksmagie mit ihren unterschwelligen antisemitischen Ressentiments war sicher nicht intendiert, zieht man noch die Verbindung der Pétrys zum elsässischen Exorzismus Hitlers durch den Maler Steib hinzu, dann ergibt sich daraus ein etappenartiger Geschichtsdurchlauf durch die Region in der Art eines Höllenritts, der dem Isenheimer Grünewald-Altar alle Ehre machen würde.

[1] Album I: 327 x 222 mm, 188 Seiten, Album II: 360 x 240 mm, 282 Seiten.

[2] Der Verdacht hat sich jüngst durch das Auftauchen von Abbildungen eines weiteren Albums von Richard in der Region Savoyen erhärtete.

[3] Vgl. Francois Pétry, „Joseph Steib – Maler des „Salon der Träume“, München 1999 / ders., Le “Salon des rêves“ – Comment le peintre Joseph Steib fit la guerre à Adolf Hitler, Straßburg 2015.

[4] Alfred Dreyfus, Cahiers de l’île du Diable, Editions Artulis, 2009

Bildnachweis: Alle Fotos der Pierre Richard-Abbildungen: Klaus Stoeber, Strasbourg

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