Der illuminierte Mzona-Mythos des Pierre Richard von Kédange (1802-1879). Teil II
Die Ichts / Das Sator Arepo-Getriebe / Zwei Evas
Die ICHtS
Bei der Durchsicht der Zauberbücher sieht man sich schnell mit der Frage konfrontiert, ob hier ein anschlussfähiges System vorlag, das zumindest in Teilen nachvollziehbar und dechiffrierbar war, oder ob es sich um ein gänzlich idiosynkratisches Konstrukt handelt, ein blühender Unsinn, eine verrückte Simulation magischer Praxis. Hat man sich diesen Richard als eine Art Outsider-Künstler vorzustellen, der sich wie ein Adolf Wölffli in manische ornamentale Welten verstrickte oder der sich wie ein Melvin Way in Diagrammen aus phantasierten Gleichungen und Formel einkleidete? Immerhin dockte er mit den Grimoires an eine tradierte Form der Gebrauchsliteratur an. Und die verschiedenen Techniken und Systeme, auf die er, wie konsistent auch immer, anspielte, wie Gematrie, astrologische Tabellarik, Sigillenmagie, kabbalistische Schemata, Beschwörungsformeln, sie alle setzten ein Grundwissen voraus, das er sich kaum über einige wenige abstruse Volkszauberbücher angeeignet haben kann.
Den Recherchen der Pétrys zufolge muss sich das Leben Richards vor seiner Internierung in einem überschaubaren Radius von ca. zehn Kilometern abgespielt haben. Die erstaunliche Entwicklung seiner Bild- und Zeichensprache lässt es jedoch als durchaus denkbar erscheinen, dass er zumindest in der Anfangsphase in einem regen Austausch mit einer Vielzahl von Personen stand. Lothringen war im 16. und 17. Jahrhundert als Hotspot der Zauberer-und Hexenverfolgungen berüchtigt. Hatte sich womöglich in den ländlichen Regionen eine Kultur des Magischen erhalten, innerhalb derer sich jemand wie Pierre Richard als eine Art christlicher Schamane oder Dabtara behaupten konnte?
Seine Bücher zeichnen sich durch eine sehr intensive und sinnliche Beschäftigung mit Schrift aus und das, obwohl Analphabetentum unter der Landbevölkerung weit verbreitet war. Dank der Bildungsinitiative eines mäzenatisch tätigen Adligen muss er über eine für damalige Verhältnisse außerordentlich gute Schulbildung verfügt haben. Dass die Kédanger Dorfjugend von einem jüdischen Lehrer unterrichtet wurde, werten die Pétrys als ein Indiz dafür, dass er schon früh mit jüdischer Mystik in Kontakt gekommen sein könnte. Möglicherweise eröffneten sich ihm dadurch auch Kontakte zu den Talmud-Schulen der großen jüdischen Gemeinde in Metz, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in Frankreich entwickelt hatte.
Den eigentlichen Auslöser für Richards Obsession für Schutzzauber machen die Pétrys in dem doppelten Schock durch den Tod der Mutter und die anschließende Enteignung aus. Tatsächlich tauchen in den endlosen Permutationsketten aus Silben immer wieder Begriffe der Täuschung und des Betrugs auf. Auch der Vorname des Halbbruders wird in einem solchen Zusammenhang erwähnt. Dass er gegen das Unheil nicht nur den Dämonenbekämpfer Michael, sondern auch bei dem heiligen Joseph anruft, und zwar Joseph den Soldaten („Joseph le soldat“), kann als Appell an den Schutzheiligen der Vaterschaft gewertet werden, für sein legitimes Erbe einzustehen. Man kann in dieser Konstellation aber auch ein deutliches Indiz für seine sehr spezielle und ausgeprägte Form des Marienkults ausmachen, in deren Zentrum die Integrität einer Mutter-Sohn-Beziehung stand, die außerhalb von Sünde und Geschlechtlichkeit war. Zur Entstehungszeit der Zauberbücher war das Mysterium der unbefleckten Empfängnis als Dogma kanonisiert worden und Maria und ihr Sohn damit auch ein für alle Mal von ihrer jüdischen Herkunft abgeschnitten und erhoben worden. Und Pierre selbst hatte, indem er durch die eigenen Leiden immer mehr die Christus-Natur annahm, auch Anteil an dieser exklusiven Verbindung, die durch Marias Schutzmantel und die Vaterschaft des keuschen Joseph doppelt beschirmt war.
Die autobiografische Komponente seiner Zauberbücher ist allein schon anhand der zahllosen Abwandlungen des eigenen Namens augenfällig. Aus Richard wird “Richardora”, “Richardia”, “Richardera”, “Richarda”, „Richardoria” und so fort. Erstaunlicherweise handelte es sich in den meisten Fällen um feminine oder neutrale Suffixe. Waren damit Erscheinungen der verstorbenen Mutter gemeint, oder Zustände einer spirituellen Gemeinschaft mit ihr? Ging es gar um Formen esoterischer Androgynität? Noch merkwürdiger waren die häufigen Variationen, bei denen die Initiale R durch die Zahl 8 ersetzt war, „8ichardtendra“, „8ichardoria” und so fort. Die meisten der Talismane bestanden aus acht siderischen Sphären, 8 auch als Unendlichkeitszahl, die die himmlischen und irdischen Kreisläufe symbolisiert. Warum aber war sie in den meisten Fällen am Kopfende offen? Handelte es sich einfach um eine kalligrafische Eigenart?
Dass sein Nachname das erste Personalpronomen enthielt, hatte für den Autor offenbar eine ganz besondere Bedeutung. Das „ich“ konnte sich aus dieser Bindung mit „Richard“ aber auch lösen und frei in den Texten flottieren. Dass es vielfach und auch im Plural vorkam, musste jedoch nicht auf eine monomanische oder solipsistische Disposition des Verfassers hindeuten, im Gegenteil.[1] Diese ICHS enthielten Kreuze (ICHtS) und waren damit Bestandteile von Christus als kollektiver Identität, sowie Ausdruck des akronymischen Erlösungsbekenntnisses (ICHTHYS).[2]
Auch der Vorname war allgegenwärtig, und zwar in allegorischen Formen, vor allem in den Piktogrammen und Illustrationen, die häufig auf Attribute seines Namenspartons Petrus anspielten. Am signifikantesten der Hahn, der an die Verleugnung Christi durch Petrus erinnert. Der Hahnschrei galt als Indikator der Wahrheit und Verkünder des Jüngsten Gerichts. Für Pierre Richard muss er als eine stetige Mahnung zur Selbstprüfung fungiert haben. Dreimal hatte Pierre-Petrus den Heiland verraten und dreimal trifft ihn der Hahn in seiner geheimen dreifachen Natur. Der Hahn des Pierre war vor allem auch ein wehrhafter gallischer Hahn, der als Heiliger Geist Teil der göttlichen Trias ist und sie beschirmt, genauso wie er auf den Spitzen der Kirchen die französischen Dörfer bewacht.
Petrus/ Pierre war aber auch in Bildern des Fischzugs präsent. In seinem Netz waren die geretteten Seelen geborgen, die ICHS des ICHTHYS. Und nicht zuletzt trugen auch die vielen Sigillen in Schlüsselform die Signatur des Autors. Christus hatte sie Pierres Namenspatron mit folgenden aufschlussreichen Worten überreicht: „Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Mt16:19). „Solve et coagula“, mit diesem alchemistischen Grundsatz aus dem Mund des Erretters war nicht nur auf die Geschlechtersymbolik der Hermetik verwiesen, sondern auch auf Richards spielerischen Umgang mit Zeichen und Schrift als einen permutativen Akt des Lösens und Bindens von Ligaturen und Silben.
Das Sator Arepo-Getriebe
Wenn es eines gab, was diese Schlüssel-Symbolik ganz unzweifelhaft eröffnete, dann war es die Aussicht, dass man sich bei keiner Decodierung sicher sein konnte, denn eine Sprache des Himmels konnte kein irdischer Verstand eindeutig erschließen. Pierres Zauberbücher lagen damit ganz auf der enigmatischen Linie der klassischen Grimoires, wobei der Leser dort immer wieder Halt in deskriptiven, technischen Passagen finden konnte. In Richards Exerzitien-Büchern hingegen gibt es diese Ebene der Anleitungen nicht. In dem Mahlstrom seiner Aleatorik und Kombinatorik tauchen jedoch immer wieder Assoziationsketten und Cluster aus verwandten Motiven auf, an denen sich Versuche festmachen lassen, zwar keine konsistente Systematik auszumachen, aber doch eine Art zugrundeliegenden Drehplan oder vielmehr eine Spielanleitung.
So meint man im ersten der beiden illuminierten Alben immer wieder Elemente zu erkennen, die der jüdischen Merkana-Mystik vom Thronwagen Gottes (gottrona) nachempfunden sind , während das zweite Album eher unter dem Eindruck von Schemen des Seforith-Baum zu stehen scheint. Beiden gemeinsam war die Vorstellung eines stufenweisen Aufstiegs durch eine spirituelle Architektur.
Auffällig ist, dass Richard trotz dieser Rückgriffe auf Topoi der jüdischen Mystik keinerlei kabbalistische Begriffe übernimmt. Auch der Einsatz hebräischer Schriftzeichen, eines der Hauptmerkmale klassischer Grimoires, kam für ihn offenbar nicht in Frage. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Jüdisches stand offenbar weit oben auf der Abschussliste des wehrhaften eschatologischen Hahns. Im ersten illuminierten Album feuerte er in ein mit „Juifs“ gekennzeichnetes Diagramm, das den gemarterten Christus im Zentrum hat.
Im Zug der 48er Revolution war es vor allem im Elsass aber auch vereinzelt in Lothringen zu antisemitischen Übergriffen gekommen. Wollte Richard etwa die kabbalistische Tradition der Ritualmagie durch ein indigeneres System ersetzen, in dem Patois, römische Lettern und runenartige Glyphen die Hauptrollen spielten? Gerade der Marianismus war geeignet, einer solchen Abtrennung vom judaistischen Erbe ideologisch Vorschub zu leisten. Kann man einem „verrückten“ Hinterwäldler solch weitreichende Ambitionen unterstellen?
In eben diese Richtung könnte man auch seine auffällige Fokussierung auf das römische Sator-Arepo-Quadrat deuten. Er zitierte und adaptierte es in beiden illuminierten Alben vielfach, auch in diagrammatischer Form.
Der rätselhafte Spruch vom Sämann Arepo und seinem mühsamen Halten und Bewahren der Räder (SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS) war auf Plaketten und Einritzungen nicht nur in italienischen Altertümern anzutreffen, sondern auch in französischen Kirchen und Schlössern, vor allem im Süden des Landes. Der Bezug auf dieses Schema war an sich nichts Besonderes. Palindrome Buchstabenquadrate zählten in Verbindung mit Astrologie und Gematrie zwar zu den Grundelementen der antiken und neuzeitlichen Ritualmagie. So enthält der vierte Band der pseudepigraphischen okkulten Unterweisung „Des Abraham von Worms Buch der wahren Praxis von der alten Magie“ aus dem frühen 17. Jahrhundert allein 257 quadratische Beschwörungsformeln, die größtenteils nach dem Muster der Sator-Arepo-Vorlage funktionierten.[3] Das besondere, ja einzigartige war allerdings, dass Richard dieses antike Ur-Diagramm nicht nur aufgriff, sondern auch seine allegorischen Dimensionen voll ausschöpfte, indem er daraus wie aus einer Matrix eine Metaphorik und Hieroglyphik ableitete, die seiner Lebenswelt analog war.
In Richards grafischer Sator-Arepo-Welt war alles hinten wie vorne, oben wie unten, dem Wechselspiel der Jahreszeiten und astrologischen Konstellationen unterworfen, die Felder der Dekanate analog zu den landwirtschaftlichen Parzellen, die Gewerke des oberen Sämanns entsprechend den Arbeiten des unteren Landmanns. In Gang gehalten wurde dieses Getriebe durch ein Mysterium im zentralen Feld N des Sator-Quadrats, in dem sich die beiden Achsen des TENET überschneiden, des spirituellen Kreuzes der Sorge und der Bewahrung. Hier öffnete sich als Dreh- und Kreuzungspunkt die marianische Rose, in der alle Gegensätze auf wunderbare Weise aufgehoben waren.
Die blütenumkränzte und in Parzellen unterteilten Kreuze auf den vorderen und hinteren Vorsatzpapieren des Enchiridion deuteten darauf hin, dass das agrarische Sator-Quadrat bereits in dieser frühen Übungsphase als Inspiration gedient haben könnte. Der Zusammenfall von Rosarium und TENET, von Rad und Kreuz, von Motorik und Stasis wurde in den Glyphen und Texten vielfach durchdekliniert: Aus Kreis wird Kreist wird Craiz und so fort. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er diesen grundlegenden Konnex auch ständig meditiert hat, passenderweise zu den Umdrehungen des Rosenkranzes. Womöglich spielten auch Korrespondenzen zwischen der Gebetskette, die in der Regel in die sieben Wochentage unterteilt war, und dem in Dekanate unterteilten Tierkreis eine Rolle.
Zwei Evas
Dass Rotationen auch an der Fabrikation des Zaubersprechs beteiligt gewesen sein könnten, darauf deutet eine Abbildung des Enchiridions hin, in der das magische Werk als eine Abfolge von vier Scheiben dargestellt war. Das zweite Stadium stellte eine alphabetische Drehscheibe in der Art der Kombinationshilfen des Raymundus Lullus vor. Dass Pierres Großvater als gelernter Wagenbauer und Radmacher schon ein Meister der Rotationen war, könnte in eine solche Konzeption hineingespielt haben. Das finale fünfte Stadium dieser Operation bestand in einer waagerechten Spule, deren 7 Windungen das Wort SERPENS, lat. für Schlange, ergab. Pierre kommentierte dieses rätselhafte Resultat am rechten Bildrand mit dem Wort EVE, ein Begriff, der im biblisch-gnostischen Zusammenhang mit Eva, Sündenfall, sexualisierter Weiblichkeit und geschlechtlicher Fortpflanzung assoziiert war.
Die Tatsache, dass dieses EVE in V achsensymmetrisch gespiegelt war, deutet allerdings darauf hin, dass es hier möglicherweise um zwei komplementäre Evas und mithin um eine Aufhebung dieser Negativität ging. Wie sie zu erreichen war, konnte eventuell die viergliedrige Buchstabenkette beantworten, mit der er die vier Abschnitte des Werks kommentiert hatte. Die vier Elemente RI-CH-AR-dO, die eine maskuline Form seines Nachnamens ergaben, waren durch jeweils ein M für Maria verbunden und darunter viermal o für vielleicht je eine gebetete Perle oder Knospe des Rosariums.
[1] Vgl. Nicolas Will-Parot, „Pierre Richard, magie solipsiste“, in: Pierre Richard (1802-1879): grimoires illuminés. Éditions Artulis, 2019, S. 79.
[2] ICHTHYS: I = Jesus, CH = Christus, TH = Gottes, Y = Sohn, S= Erlöser: Jesus Christus, Gottes Sohn und Erlöser
[3] Das Buch lag seit Mitte des 18. Jhds in deutschen und französischen Abschriften vor. Eine erste Druckfassung war 1853 in Stuttgart erschienen.
[4] „The Zoist“ war der Titel eines mesmeristischen Periodikums des englischen Arztes John Elliotson, das von 1843 bis 1856 in London erschienen war. Elliotson war ein Anhänger des französischen Okkultisten und mesmeristischen Heilers Baron Jules Dupotet de Sennevoy, der zeitweise auch überaus erfolgreich in England praktizierte.
[5] In der Kabbala figuriert dieser weiblich vorgestellte Zustand der Erfüllung und Freiheit als „Schechina“, Blake nennt ihn „Jerusalem“