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Der illuminierte Mzona-Mythos des Pierre Richard von Kédange (1802-1879). Teil III

Himmlisches Zo / INRI wird ISO / Schwäbischer und Lothringischer Somnambulismus

Himmlisches Zo

Richards zeichenhafte Geschlechtersymbolik ging auf die theurgisch-neuplatonische Geometrie der alexandrinischen Spätantike zurück und hatte von dort ihren Weg in die jüdische Mystik und die Hermetik gefunden. Das bekannteste Beispiel war das Siegel Salomons, das Hexagramm, das aus der Durchdringung zweier oppositioneller Dreiecke bestand, als der Vereinigung von Himmel und Erde, von männlichem und weiblichen Prinzip. Letzteres war in Pierres System durch die Versalie V vertreten, V für Bifurkation und Binarität, das verkehrte V oder auch A repräsentierte den himmlischen Influx. N deutete die Verbindung an. Z könnte einen energetischen Blitz bezeichnet haben, die Besamung durch den kosmischen Sator Arepo, und die Kraft der Sonne.

Zo und Zos blinkte es aller Orten in Pierres Büchern. Die Silbe mit dem alphabetischen Endbuchstaben am Anfang spielte auch in anderen neuzeitlichen Zauberbüchern eine prominente Rolle. William Blakes Mythos drehte sich, frei nach der Vision des Hesekiels, um die Zoa, die vier elementaren Tiere oder Grundkräften des Menschen. Einige Jahrzehnte später, in den 1840er Jahren, war dann im Umfeld mesmeristischer Heilpraktiken kurzzeitig der Zoismus populär, ein Begriff, der von griechisch „zoe“ für Leben abgeleitet war und für die Existenz eines alldurchdringenden feinstofflichen Fluidums stand.[1] Der sigillenmagische Zos-Kult des englischen Künstlers und Ritualmagiers Austin Osman Spare gründete zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch auf solchen vitalistischen Vorstellungen.

Straßburg und Metz waren im vorrevolutionären Frankreich Zentren mesmeristischer Aktivitäten gewesen, die in sogenannten Gesellschaften universeller Harmonie organisiert waren.  Dass Pierre mit mesmeristischen Anschauungen und ihren astralmagischen Auslegungen in Berührung kam scheint also mehr als wahrscheinlich. In den Strömungen des freimaurerischen Martinismus waren Mesmers Lehren vom astral-animalischen Magnetismus eine Reihe abenteuerlicher Verbindungen mit jüdischen, katholischen und pietistischen Mystizismen eingegangen, die eng mit Ritualmagie verknüpft waren.  Die Symbolik von Pierre Richards Zauberbücher könnte ein Indiz dafür sein, dass die gnostische Programmatik des Martinismus, dessen theurgisch ausgerichteter Mutterorden der Élus Coëns bis zu seiner Auflösung in den 1780er Jahren ebenfalls in Metz organisiert war, allmählich auch auf die Niederungen der Volksmagie abgestrahlt hatte.

Aber auch der klangvolle Name des Urmagiers Zoroaster könnte in Pierres Vorliebe für die ehrfurchtsgebietende Vorsilbe Zo hineingespielt haben, sicherlich aber der Zodiak, der sich in seinem zauberischen Vokabular mit dem deutschen Wort „Sonne“ zu „Zona“ verband. „Zona“ repräsentierte möglicherweise die maskuline Dimension des Sator Arepo-Getriebes, „Mona“ die weiblichen Aspekte. Aus der Vereinigung ergab sich der inflationär vorkommende Begriff „Mzona“. „Mzona“ könnte für das paradiesische Feld stehen, für das weite Netz des Petrus, das unendliche Rosarium, den androgynen Schutzraum, in dem Richard seine Neugeburt als 8ichardora erfuhr.[2]

Pierre Richards Blätter waren voll von Anspielungen auf die agrarische Dimension der hermetischen Akte von Zona und Mona. Z-Versalien wandelten sich zu pflugartigen Sigillen, denen der Same o in der Furche nachfolgte. Lettern waren immer auch Bild und Symbol. An der Bereitung des eschatologischen Mzona-Felds waren auch Grapheme in der Form von Sensen, Sägen, Dreschflegel und Karren beteiligt. Alle fungierten als Transmitter des großen Werks der Transformation. Die Kornähre war ein Hauptattribut vieler seiner Charaktere, Symbol der Auferstehung, aber auch Zeichen der großen biblischen Ernte, des endzeitlichen Siebens und des Mahlens. Richards agrarische Symbolik wies erstaunliche Parallelen zu den Bilddichtungen Blakes auf, nicht nur was die Häufung und den apokalyptischen Gehalt betraf, sondern auch die selbstreferentielle Konnotation, das Bestellen des graphischen Feldes.

Im Wachstum der Pflanzen muss Pierre Richard auch sein Ideal einer keuschen Fruchtbarkeit gespiegelt gefunden haben, ebenso im Flug der Bienen, die als Boten einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung traditionell der Heiligen Jungfrau zugeordnet waren und in dieser Funktion auch in seinem Opus auftauchten. Durch eine verführte Eva war der Mensch aus einem solchen Stand der Reinheit verstoßen worden, und nur durch eine reine Eva konnte er zurück gelangen. Mzona stand, wie die Initiale verriet, unter dem Schutz Marias. Mzona war ihre Domäne, denn sie trug den keuschen Samen in sich, den Zon (Sohn) oder vielmehr in der androgynen, non-binären Identität, die mit der Mutter verschmolzen war: den/die /das Zona.

 

INRI wird ISO

Etliche Zeichen verwiesen auf die androgyne Wandlung, die der Aspirant durchmachen musste, um als Seelen-Same in Mzona aufzugehen, zuvorderst die S-förmige Schlangen-Symbolik. M war die in der Johannes- Offenbarung verheißene himmlische Frau, die am Ende der Zeit mit dem Mond unter ihren Füßen und in einem Kranz von zwölf Sternen erscheinen würde und unter der Bedrohung der alten Schlange in der Wüste den Schlangenzertreter gebären würde.[3] Der Erzengel Michael, den Pierre in seinen Büchern permanent anrief, würde ihr in diesem Kampf zur Seite stehen. Der sichelartige und s-förmige Fortsatz an vielen der M-Versalien spielte auf diese Szenerie an.  Allerdings schien die attributive Form noch auf einen weiteren Zusammenhang zwischen der Schlange und Maria zu verweisen, der viel tiefgreifender war und über die apokalyptische Bedrohung hinausging.

Die Schlange spielte in Richards Grimoires eine herausragende Rolle. Die Zeichnung einer Python auf einem Kreuz in Album 1 verrät, dass er mit dem hermetischen Mythos der Schlangentransformation und der Vorstellung von Christus als verwandelter Python vertraut war. Er gründete im Wesentlichen auf der alttestamentarischen Erzählung von der ehernen Schlange, die Moses seinem Volk als Gegengift gegen die tödlichen Folgen des Unglaubens präsentiert hatte. Die bekanntesten Darstellungen von Schlangentransformationen waren in der spagyrischen Abhandlung “R. Abrahami Eleazaris Uraltes Chymisches Werk” zu finden.[4]  Es ist gut möglich, dass Richard dieses weit verbreitete Werk kannte. Neben den Zerteilungen und Zusammenführungen des Pythons spielten darin die Bereitung der beiden jungfräulichen Erden Arez und Marez eine wichtige Rolle, sowie die Sammlung und Destillation des Taus, dem Träger des himmlischen Samens. Vor allem der Bildanhang dieser pseudo-jüdischen, antisemitischen Schrift, im dem sich noch weitere bekannte hermetische Motive wie der dreifaltige Rosenstrauch, die Sol- und Luna-Zwillinge und Mercurius mit dem Caduceus finden, führte vor Augen, wie nah Richards Grimoires an der Symbolik der Spagyrik gebaut hatten.

Hat man sich den lothringischen Magier also auch als einen Praktiker der Iatrochemie vorzustellen, der frühmorgens den Tau (Zo) in Tüchern sammelte, wie die Alchemisten im „Mutus Liber“, um ihn mit der jungfräulichen Erde (Marez oder Mzona) zu einem allheilenden Elixier zu vermählen?[5] ISO, die Inschrift auf der Schlange über dem INRI- Kreuz sprach jedenfalls für einen solchen spagyrisch-naturheilkundlichen Kontext. Hatte sich der König der Juden (INRI: Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum) in einen Iatros verwandelt? Das dazugehörige Mantra im Begleittext lautete: iso.serpen.iso.

Zwei diagrammatische Grafiken, in denen ISO das Rad und INRI die Speichen markierte, schienen diesen medizinischen Zusammenhang auf die Sator-Rotationen zu übertragen: Heilende Verwandlung (ISO) durch Leiden (INRI). Dass Richard auf diesem Weg der Transformation war und sich möglicherweise selbst als Medizinmann sah, deutete die offene 8 an, die er den meisten Variationen seines Namens vorangestellt hatte. Eine frühe Version dieser seltsamen Initiale in seinem Enchiridion lässt vermuten, dass es sich um ein abstrahiertes Caduceus- oder Äskulapzeichen handelte, das Kennzeichen des Arztes, der die Gegensätze harmonisiert.

 

Schwäbischer und Lothringischer Somnambulismus

Wie eng magisches Schreiben mit Heilpraktiken verbunden sein konnte, geht aus dem zeitgenössischen Fall der schwäbischen Somnambulen und Hellseherin Friedricke Hauffe hervor. Die 1801 in dem schwäbischen Dorf Prevorst bei Ludwigsburg geborene Förstertochter war nach langen psychotischen Episoden mit Visionen und Prophetien im Haus des mesmeristischen Arztes und Dichters Justinus Kerner aufgenommen worden, der ihre Krankengeschichte ausführlich dokumentierte. Mit dem 1829, unmittelbar nach ihrem frühen Tod erschienenen zweibändigen Werk mit dem sprechenden Titel „Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen, und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsre“ liegt eine faszinierende para-psycho-pathologische Fallstudie avant la lettre vor, die sich lange vor der Erschließung der Kunst psychisch Kranker auch auf eine empathische Weise auf die zustandsgebundenen Äußerungen und Artefakten der Patientin einließ, in Hauffes Fall ihre sogenannten inneren Sprache und Schrift.

Kerner befasste sich eingehend mit ihrer psychografischen Produktion und reproduzierte etliche Beispiele ihrer magischen Zeichen, die, durch die Vermittlung der Seele, in der Lage sei, die Sprache der Geistwesen wiederzugeben. „Ein vollständiges ABC von dieser Sprache konnte sie nicht angeben (…), es sey oft ein einzelner Buchstabe auch zugleich ein ganzes Wort.“ Äußerst klangvoll sei diese innere Sprache gewesen, auch sei sie „sich in ihren Ausdrücken für das, was sie in ihr sagen wollte, ganz consequent“ geblieben, „so daß Menschen, die längere Zeit um sie waren, sie nach und nach verstehen lernten. Sie sagte öfters: in dieser Sprache könnte sie ihre innersten Gefühle ganz ausdrücken, und sie müsse, wenn sie etwas deutsch sagen wolle, es erst aus dieser ihrer inneren Sprache übertragen.“[6] Kerner führte einige Beispiele dieser Übersetzungen an. So hieß Arzt beispielsweise „handacadi“ und „O pasqua non ti bjat handacadi“ „Willst du mir nicht die Hand geben, Arzt?“ Die Seherin fühlte sich durch ihre jenseitigen Kontakte selbst zur Handacadi befähigt. Sie betrieb Fernheilungen und verordnete Patienten ihre in Trance empfangenen Schriftzeichen, die oft auch in Verbindung mit bestimmten Kräutern in Amuletten auf den betroffenen Körperpartien zu tragen waren.[7]

Die Entfernung zwischen Hauffes schwäbischer und Richards lothringischer Provinz schien nicht groß wie die Jenseitswelten der beiden Visionäre, die ein Riß der Reformation trennte, der sich auch in den übersinnlichen Kommunikationsweisen niederzuschlug. Hauffe bewegte sich mit ihrer inneren Sprache und Hieroglyphik in einem spontanistischen Rahmen, der auf die écriture automatique vorauswies. Kerner fand in ihr „sehr viel Uebereinstimmendes mit den Sprachen des Orients, und dies gewiß nur daher“, weil jene „die Ueberbleibsel der Ursprache des gefallenen Menschen“ seien. Er rekurrierte damit auf den kabbalistischen Mythos der adamischen Ur-oder Natursprache, den er durch die Schriften Jacob Böhmes kannte. Aber auch die esoterischen Alphabete der Sigillenmagie, die Richards Idee von Schrift zugrunde lagen, beriefen sich in letzter Instanz auf diesen Mythos einer unkorrumpierten Ursprache, hier die Henochische Sprache des Himmels, in der Zeichen und Bezeichnetes eine evokative Einheit bilden.

Doch während Richard mit einem kanonisierten Personal aus Heiligen und Engeln auf eine ebenso festgelegte, mechanische Weise zu kommunizieren schien, nämlich nach dem Regelwerk Arepos, das sich genauso wie die altkatholische Liturgie dem irdischen Verstand entzog, waren die Erscheinungen und inneren Unterredungen Hauffes ungebunden. Wer sich wann meldete war unvorhersehbar und hing von der psychischen Verfassung ab.  Richard hingegen wandte eine Reihe vermutlich sehr präziser Trance- und Meditationstechniken an, zu denen neben dem Rosenkranz auch das Psalmodieren und Memorieren bestimmter suggestiver, oft homophoner Wortpaare und Silbenkombinationen zählten. „yeux . cieux“ war ein solches oft wiederkehrendes Mantra. Die wohlklingende Assoziation von Auge und Himmel erzeugte die Vorstellung des Durchschauens, über das physische Auge und den paulinischen dunklen Spiegel hinaus und war bei genügender Wiederholung vermutlich in der Lage in den Zustand eines prophetischen Wachschlafs zu überführen. Man kann davon ausgehen, dass weite Teile der Zaubertexte solch einem erprobten selbsthypnotischen Zweck dienten und nicht Ausdruck einer stumpfen Manie waren.

Hauffes pietistische Trancesprache konnte aus einem ganz anderen Pool an Praktiken der Innenschau schöpfen, die zum einen über die mystisch häretischen Traditionen Osteuropas, insbesondere die kabbalistische Theosophie Jacob Böhmes in den schwäbischen Raum eingeflossen waren. Eine zweite, weniger bekannter, aber nichtsdestoweniger nachhaltige Prägung rührte von der charismatischen Religiosität hugenottischer Flüchtlinge aus dem französischen Zentralmassiv. Die sogenannten Kamisarden, die in England als „French Prophets“ berüchtigt waren, hatten die herabgestimmte Religiosität der Aufklärungszeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit einer Reihe von schockierenden Extasetechniken aufgemischt, die sich auf Praktiken der frühen christlichen Gemeinden beriefen, wie Wunderheilungen, kollektiven Exorzismus, prophetische Trance- oder Zungenreden und besinnungsloses, sogenanntes prophetischen Schreiben.

Die enthusiastischen Impulse hatte im reformierten Lager zu einer Reihe evangelikaler Kirchen- und Sektengründungen geführt und setzten den Katholizismus damit auf breiter Front unter Druck, vor allem im nachnapoleonischen Frankreich. Hinzu kamen die erotische Sophienmystik vieler protestantischer Mystiker und Sekten, die als Imitation der Marienverehrung wahrgenommen wurde, und der Swedenborgianismus, der zu Ende des 18. Jahrhunderts die Tore zu einer reformierten Geisterwelt weit aufgestoßen hatte. Die Auswirkungen dieser spiritualistischen und evangelikalen Wellen auf den einsetzenden „Renouveau catholique“ sind noch nicht ausreichend untersucht worden.

Die urbanen französischen Eliten konnten ihren Bedarf an sinnlich greifbarem Mystizismus mit neuen freimaurerischen Orden und verschiedenen Spielarten eines frühsozialistischen Utopismus mit katholisch-messianischem Einschlag kompensierten.Wo aber blieb das andere ländliche Frankreich? Und wo war ein Pierre Richard in dieser Epoche einer wundersüchtigen Romantik und des revolutionären Aufbruchs zu verorten? Die deutsche Nonne Katharina Emmerick hatte für ihre Stigmatisierungen einen Clemens Brentano als Chronisten, Friederike Hauffe für ihre visionären Heimsuchungen einen Justinus Kerner an der Seite, der seine Forschungstätigkeit nach ihrem Tod zu einem weithin korrespondierenden parapsychologischen Netzwerk und Archiv der Geisterkunde ausgebaut hatte.[8]

 

[1] „The Zoist“ war der Titel eines mesmeristischen Periodikums des englischen Arztes John Elliotson, das von 1843 bis 1856 in London erschienen war. Elliotson war ein Anhänger des französischen Okkultisten und mesmeristischen Heilers Baron Jules Dupotet de Sennevoy, der zeitweise auch überaus erfolgreich in England praktizierte.

[2]   In der Kabbala figuriert dieser weiblich vorgestellte Zustand der Erfüllung und Freiheit als „Schechina“,  Blake nennt ihn „Jerusalem“

[3] Vgl. Offenbarung des Johannes, 12,1–4

[4] Vgl. Alexander Roob, Alchemie und Mystik. Das Hermetische Museum, Ausgabe Köln 1996, S. 401 und 419

[5] Vgl. ebd. S. 374 – 393

[6] Vgl. Justinus Kerner, Die Seherin von Prevorst, Ausgabe Stuttgart 1846, S. 210- 211

[7] Ebd. S. 142-145

[8] Dieses spiritistische Archiv wurde von 1840-1853 in 5 Bänden publiziert unter dem Titel „Magikon: Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiet der Geisterkunde und des magnetischen und magischen Lebens nebst anderen Zugaben für Freunde des Innern.“ Vorausgegangen waren 12 Ausgaben der “Blätter aus Prevorst”.

Bildnachweis: Alle Fotos der Pierre Richard-Abbildungen: Klaus Stoeber, Strasbourg

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